© Renate Limberg & HHP 8/1/97
Renate Limberg
 

Frau Renate Limber - Düsseldorf - Foto mit frdl. Genehmigung
 

Therapeutische Aspekte in der Malerei Hermann Hesses
Vortrag anläßlich des 9. Hermann Hesse Colloquiums in Calw, Mai 1997

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Als Hermann Hesse 1916, im Alter von fast 40 Jahren zu malen beginnt, befindet er sich in einer Situation starker innerer und äußerer Krisen. Sein Vater ist kurz zuvor gestorben, seine Ehe droht zu zerbrechen, und täglich wird er mit dem Elend der Kriegsgefangenen konfrontiert. Nachdem er in seiner Ausdrucksform, der Sprache, bereits seit mehr als einem Jahrzehnt große Anerkennung erfährt, versucht er sich gerade jetzt in einem für ihn fremden Medium, das ihm erheblichen Widerstand entgegensetzt, weil es eben kein einfach zu handhabendes Ausdrucksmittel ist.

Er kennt das Tessin von kurzen Aufenthalten her, bevor er sich 1919 dort auf Dauer niederläßt. Allein mit der Schönheit dieser Landschaft, mit den Farben, der Wärme, dem Licht, läßt sich noch nicht erklären, weshalb er sich in den ersten Jahren mit einer solchen Ernsthaftigkeit, Intensität und Ausdauer das bildnerische Instrumentarium anzueignen versucht und sich auch durch teilweise vernichtende und durch den Vergleich mit der Qualität seiner Dichtung unangemessene Kritik nicht beirren läßt.

In zahlreichen Äußerungen bringt er die Bedeutung des Malens für ihn zum Ausdruck. So schreibt er z.B.1920 an Ludwig Finckh: „ ... und bin, alles in allem, durch das Malen in diesem letzten Jahr am Leben erhalten worden, das ich sonst nicht ausgehalten hätte."1 In einem Brief an Ina Seidel schreibt er 1925: „Es ist so, daß ich längst nicht mehr leben würde, wenn nicht in den schwersten Zeiten meines Lebens die ersten Malversuche mich getröstet und gerettet hätten."2 Solche Äußerungen sind von der Motivation eines Hobbymalers weit entfernt. Was sind aber die Gründe für diese starke Wirkung des Malens auf ihn?

Bevor ich auf diese Frage eine Antwort zu geben versuche, möchte ich kurz auf die Entwicklungsphasen seiner Malerei eingehen und Ihnen dazu einige Dias zeigen. Ich beschränke mich wegen der knappen Zeit auf drei Hauptphasen, eine stärkere Differenzierung nimmt V. Michels vor in Hermann Hesse als Maler3.

(Hesse Kalender 1996 - Februar)
Hesse Kalender 1996 - Februar, (c) Suhrkamp Verlag 1995

In der ersten Phase [oben] muß er sich zunächst einmal das Handwerkszeug aneignen und mit dem ästhetischen Instrumentarium vertraut werden. Da der Schwerpunkt auf der Auseinandersetzung mit dem Medium liegt, kann die ästhetische Vermittlung der Landschaft nicht im Vordergrund stehen, sondern er nähert sich ihr zunächst über eine naturalistische Darstellung an.

(Hesse-Kalender 1991 - August)
Hesse Kalender 1991 - August, (c) Suhrkamp Verlag 1990

In der nächsten Phase [oben] dominieren geometrische Formen: Kreise, Quadrate, Rechtecke, Dreiecke, Bögen. Sein dominierendes Thema sind Bäume und Häuser, die Landschaftsformen werden vereinfacht, reduziert, verdichtet auf etwas, das für ihn offenbar wesentlich und bedeutungsvoll ist.

(Hesse-Kalender 1991 - September)
Hesse Kalender 1991 - September, (c) Suhrkamp Verlag 1990

In den späteren Bildern nähert er sich dann wieder stärker den visuellen Erscheinungsformen der Natur an, aber natürlich differenzierter als zu Beginn , denn inzwischen hat er sich das bildnerische Ausdrucksmedium erarbeitet. Es steht ihm jetzt zur Verfügung. Ich komme später noch einmal auf diese Bilder zurück.

 Wir wissen, welchen Belastungen Hermann Hesse als Kind ausgesetzt war, wir haben gestern gehört, welch ein Leidensdruck von ihm ausgehalten werden mußte. Woher hat er trotz dieser Lebenserfahrungen die Kraft für ein so schöpferisches Leben genommen?

In der bildnerischen Auseinandersetzung mit der Landschaft des Tessin sind offenbar Kräfte aktiviert worden, die in einem hohen Maße spannungsreduzierend und selbstregulierend wirkten.

 Um zu verstehen, welcher Zusammenhang zwischen der Art, wie er die Landschaft gestaltet und der selbsttherapeutischen, geradezu lebensrettenden Bedeutung des Malens für ihn besteht, muß ich kurz in die Kindheit Hesses zurückgehen, denn wie er das Malen betreibt und warum es so intensive Wirkungen hat, ist eng mit seinem frühen Lebenserfahrungen, seinen Bewältigungsversuchen verbunden.

 Es sind ja gerade die Erfahrungen existentieller Not, des Mangels, des Verlustes, der Trauer, der Angst, der übermächtigen Spannungen, die schöpferische Kräfte - unter bestimmten Bedingungen - freisetzen können. "Kreativität ist eine Form des Umgangs mit der Versehrtheit des menschlichen Lebens"4 Aber, wie Hölderlin sagte, "...mit der Gefahr wächst das Rettende auch." Der Mensch verfügt von Beginn seines Lebens an über Möglichkeiten, auf sein Befinden Einfluß zu nehmen und starke Spannungen zu reduzieren.

 Um solche Selbstregulierungskräfte am Beispiel von Hesse zu beschreiben, möchte ich einen Begriff des Psychoanalytikers Winnicott zu Hilfe nehmen und zwar den Begriff des "intermediären Raumes"5. Als "intermediären Raum" bezeichnet Winnicott einen Übergangs- oder Zwischenraum, der zwischen der inneren, psychischen und der äußeren Realtität vermittelt. Es ist der Ort von Phantasie und Kreativität, der Ort der Symbolbildung, der eine Distanz zur Lebensproblematik ermöglicht, ohne dabei die Verbindung zur Realität aufzugeben. Es ist der Bereich, der Wirklichkeit und Phantasie verbindet. Jeder Mensch entwickelt in der frühen Kindheit diesen Übergangsraum, der sich auch im Spiel ausdrückt, aber mit zunehmendem Alter, und das bedeutet in der Regel mit zunehmender Anpassung an die Ansprüche der Außenwelt, wird der intermediäre Raum immer weiter eingeschränkt, um schließlich zu verkümmern.

 Der Künstler dagegen hat sich diesen Übergangsraum erhalten können und kann ihn während seines gesamten Lebens nutzen. "Man sagt, daß alle großen Männer etwas Infantiles bewahren müssen"6, sagt Freud mit Blick auf Leonardo da Vinci.

 Der Künstler träumt und phantasiert nicht nur, d.h. er zieht sich nicht völlig von der Außenwelt zurück, aber er bewegt sich andererseits auch nicht in eingefahrenen Gleisen, d. h. er ist nicht völlig angepaßt. Der junge Hesse gestaltet seinen intermediären Raum auf zweierlei Weise: er kann sich schon früh durch Lesen von seiner Lebensproblematik distanzieren, bleibt aber dennoch mit dem "Leben" verbunden: "Mit süßem Schauder fühlte ich aus diesen Büchern mir die würzig kühle Luft eines Lebens entgegenströmen, das nie auf Erden gewesen und doch wahrhaftig war und nun in meinem ergriffenen Herzen seine Wellen schlagen und seine Schicksale erleben wollte."7

 Die andere Art, den intermediären Raum zu nutzen, halte ich für seinen späteren Zugang zum Malen für besonders wichtig: Er kann sich häufig der Aufsicht und Kontrolle seiner Eltern entziehen und in der Natur umherstreifen. „Ich wußte Bescheid in unserer Vaterstadt, in den Hühnerhöfen und in den Wäldern, in den Obstgärten und in den Werkstätten der Handwerker, ich kannte die Bäume, Vögel und Schmetterlinge ..."8

 Ein Mitschüler, der ihn zufällig im Wald entdeckte, staunte "über die zärtliche Art, mit der er die Blumen untersuchte, über seine gründlichen Kenntnisse und über seine Bemerkungen über das Märchenhafte der Formen und Farben [...] Sah er nicht aus wie ein angehender Naturforscher, wenn er im breitrandigen Strohhut mit Botanisiertrommel und Blumenstrauß, Angelrute und Eimer, Schmetterlingsnetz und Schachtel von einer Streife heimkehrte und nachdenklich und in sich gekehrt durch die Straßen und Gassen des Städtchens pilgerte? Er war ein Einzelgänger und hatte, soviel ich weiß, keine richtigen Freunde, brauchte auch keine und wollte vielleicht keine. Mit wenigen Ausnahmen hatte er, wie er selbst erzählt, keine Glück mit Knabenfreundschaften. Blumen, Vögel, Tiere, Wolken und Sterne waren seine Freunde."9

 Seine besondere Beziehung zur Natur nimmt in seinem Werk einen großen Raum ein, z.B. in Peter Camenzind: "Zeigt mir in der weiten Welt den Mann, der die Wolken besser kennt und mehr lieb hat als ich."

Die Natur ermöglicht ihm alle Sinne einschließende, ganzheitliche Erfahrungen. In der selbstbestimmten Aktivität kann er die Einheit von Gefühl und Handeln aufrechterhalten. "Identität ist als ein kreativer Prozeß der Balance zwischen Innen und Außen ein Produkt des »intermediären Raumes«."10

 In Hesses Entwicklung sind also zwei Tendenzen zu erkennen, diese Balance herzustellen:

Auf der einen Seite steht die Beschäftigung mit der Literatur. In seiner Dichtung versucht er, seine Lebensproblematik zu verarbeiten. "Eine neue Dichtung beginnt für mich in dem Augenblick zu entstehen, wo eine Figur mir sichtbar wird, welche für eine Weile Symbol und Träger meines Erlebens, meiner Gedanken, meiner Probleme werden kann", und: "Beinahe alle Prosadichtungen, die ich geschrieben habe, sind Seelenbiographien", schreibt er in Eine Arbeitsnacht (1927).

 Auf der anderen Seite entwickelt er eine intensive, sinnliche Beziehung zur Natur.

Die Liebe zur Natur würde alleine noch nicht zu den beschriebenen tiefen Wirkungen führen, es kommt noch etwas anderes hinzu. Es ist das Besondere der künstlerischen Persönlichkeit, das sie - anders als der weniger schöpferische Mensch - den intermediären Raum seiner Kindheit sein Leben lang erhalten kann. Das heißt nicht nur, daß die Schranke zwischen psychischem Raum und der Außenwelt durchlässig bleibt, sondern das bedeutet auch, daß er den Zugang zu frühen Formen des Wahrnehmens und Empfindens, zu einem frühen, ganzheitlichen, primärprozeßhaften Denken auch als erwachsener Mensch behält. Damit ist Hesses spezielle Wahrnehmung für Formen und Rhythmen und seine besondere Sensitivität und Ansprechbarkeit in bezug auf eine frühe Symbolsprache zu erklären.

Hesse greift in seiner Motivwahl auf einen frühen symbolischen Ausdruck zurück, der sowohl Problematik als auch Bewältigungsmöglichkeiten in verdichteter Form enthält. Es fällt auf, daß er nach der ersten Phase der Erarbeitung des bildnerischen Instrumentariums sein Formenrepertoire immer stärker auf Grundformen reduziert. Man könnte überspitzt sagen: je mehr er dieses Medium beherrscht, um so stärker vereinfacht er. Ich schließe daraus, daß diese Reduktion nichts mit Unvermögen zu tun hat, sondern daß es dafür andere Gründe gibt.

Die geometrischen Grundformen Kreis, Quadrat, Dreieck, Rechteck usw., die in der zweiten Phase vorherrschen, sind Formen, die zweifellos sehr weit von einer Abbildungsbedeutung entfernt sind. Die Frage liegt nahe, wieso gerade mit Hilfe dieser ungegenständlichen Formen ein so starker subjektiver Ausdruck und Eindruck möglich ist, wie es Hesse offenbar erfahren hat. Es ist bei dieser Frage interessant, einen kurzen Blick auf die Tendenzen in der bildenden Kunst der damaligen Zeit zu werfen. In den Jahren 1914/15 malte Kasimir Malewitsch, ein Vertreter des russischen Kontruktivismus bzw. des Kubo-Futurismus sein "Schwarzes Quadrat auf weißem Grund", dem zahlreiche Versionen folgten. Das Schwarze Quadrat war für Malewitsch Ausdruck reiner Empfindung, weil jede Nähe zur Gegenständlichkeit - und damit auch zum Erzählerischen - ausgeschlossen war. Malewitsch nannte seine Malerei Suprematismus, weil das Empfinden dem Gegenstand übergeordnet war.

Mit der Ausklammerung der narrativen Ebene ist aber die Frage nur teilweise beantwortet, weshalb es gerade geometrische Grundformen sind, die eine besondere, intensive Beziehung zum Emotionalen aufweisen, der andere Teil der Antwort liegt in der besonderen Beziehung des Menschen zu diesen Formen sowohl innerhalb seiner ontogenetischen als auch phylogenetischen Entwicklung. Wenn wir uns ansehen, wie sich die zeichnerische Entwicklung beim Kind vollzieht, und zwar kulturübergreifend, so durchläuft jedes Individuum bestimmte Phasen, die mit verschiedenen Kritzelformen beginnen und sich so wie auf der Abbildung zu sehen ist, weiterentwickeln. Die erste geschlossene Form ist der Kreis, aus dem sich Rechteckformen entwickeln usw. Damit ist das gesamte bildnerische Repertoire bereits vorhanden, alle nur denkbaren Formen können aus dieser formalen Grundausstattung entwickelt werden, indem sie variiert, kombiniert und differenziert werden. In der Kinderzeichnung nimmt das Kind also zunächst Bezug auf seine frühesten, pränatalen Lebenserfahrungen des Schwingens, Rotierens, Schwebens, der schwerelosen Kreisbewegungen im Uterus. In seinen ersten Gestaltungen im Alter zwischen ca. 2 ½ und 4 Jahren erlebt das Kind diese Bewegungserfahrung nach und macht sie sich von seiner aktuellen Entwicklungsstufe aus aktiv gestaltend zugänglich. In dem zeichnerischen Nachspüren der Urbewegungen des Organismus kommt eine "organische Erinnerung"11 zum Ausdruck, es ist ein symbolbildender Vorgang, der psychophysisches Befinden in eine Form bringt.

Die frühesten Erfahrungen des Menschen mit der runden Form sind Schutz und Geborgenheit, auch wenn der Aspekt des Eingeschlossenseins und der Enge im Uterus potentiell, je nach den individuellen Lebensbedingungen, enthalten ist. Diese gegensätzlichen Aspekte schließen sich aber nicht aus, sondern es sind Ambivalenz und Gegensatzstruktur, die die Symbolqualität ausmachen.

Im Vergleich zu der natürlichen, organischen Kreisform haben Quadrat und Rechteck viel mehr mit aktiver Gestaltung zu tun. Durch Rechtwinkligkeit und gleiche Seitenlänge vermittelt das Quadrat Sicherheit, Stabilität, Ruhe, aber auch Unbeweglichkeit und Begrenztheit. Ob das Quadrat eher als steril und adynamisch oder als ordnungsstiftend und angstabwehrend empfunden wird, hängt allein von den Lebenserfahrungen des Menschen ab, der es benutzt. Die Form als Symbol enthält beide gegensätzlichen Aspekte.

Farbe und Form in ihrer jeweils subjektiven Auswahl und Kombination, in ihrer mehr oder weniger spannungsvollen Beziehung, ergeben die bildnerische Struktur. Zentrale Strukturelemente wie Bewegung, Gleichgewicht, Spannung, Rhythmus, Gegensatz, Symmetrie, Statik, Dynamik usw. sind zugleich psychische Ordnungsfaktoren, Polaritäten im Sinne C.G. Jungs, die das Fließgleichgewicht der psychischen Energie erhalten. Die bildnerische Ordnung spiegelt daher die Möglichkeiten und Grenzen des Malenden wider, mit diesen Kategorien umzugehen, sie stellt den intermediären Raum dar, in dem neue Ordnungen erprobt, neue Beziehungen, neue Balancen, neue Relationen ausprobiert werden können.

Mit dem psychischen Mechanismus der "Verschiebung" kann Hesse die Landschaft, wie er sagt, "umdichten", er kann so Ordnungen verändern und sie seinen Bedürfnissen und Maßstäben anpassen. „Neu und sinnvoll wird die Welt verteilt", schreibt er in dem Gedicht Malerfreude.

Die Grundformen dienen einer "Regression im Dienst des Ich"12, einer "gutartigen Regression"13, in dem sie ein Auffüllen, eine narzißtische Zufuhr der emotionalen Grundbedürfnisse ermöglichen, an denen es in der frühen Entwicklungszeit gefehlt hat. Der Aspekt der gutartigen Regression kommt sehr treffend in Hesses Formulierung: "Sich ins Leben fallen lassen"14 zum Ausdruck.

Die Grundformen erlauben also, an positiven Lebenserfahrungen anzuknüpfen und eine Kontinuität in diesem Bereich des Lebens aufrechtzuerhalten, ohne daß sich die Problematik so bemerkbar macht, daß Abwehrmaßnahmen nötig werden.

Im Umgang mit diesen archetypischen Formen kann der Malende der Urheber, der Verursacher einer positiven emotionalen Umstimmung sein und sich damit für Mangelerfahrungen der Vergangenheit zu einem Teil entschädigen, auch wenn wir berücksichtigen, daß es sich nur um einen Ersatz handeln kann. "Der Wunsch, die Mutter der frühen Tage, die man ... verloren hat, wiederzuentdecken, ist auch für das künstlerische Schaffen ... von größter Bedeutung."15 Da der Malende den Zusammenhang zwischen seiner Aktivität und den daraus folgenden Empfindungen unmittelbar erlebt, erfährt er diesen Prozeß als Wiedergewinnung von Möglichkeiten, auf sein Leben, vor allem auf seine emotionalen Erfahrungen Einfluß zu nehmen.

Der bildnerische Umgang mit einer frühen Symbolik erlaubt es Hesse also, nicht gelebte Anteile, zu kurz gekommene Erfahrungen, emotionale Mangelzustände, die mit seinen frühen Lebenserfahrungen verbunden sind, nachzuholen. Er kann sich selbst in seinen bildnerischen Ordnungen zu einem großen Teil mit Sicherheit, Stabilität, Geborgenheit und Wärme auffüllen.
 
 

„Man wird nicht »gesund«, man verliert nicht den Schmerz, aber man beginnt wieder neugierig auf das zu werden, was uns noch bevorsteht."16 Hesse kann in seiner Malerei der depressiven Selbstentwertung, der Angst, der Schwermut, die Erfahrung der eigenen Selbstregulierungsmöglichkeiten entgegensetzen, hier kommt die Hilfe nicht von außen, sondern von ihm selbst.

In seinem Kurzgefaßten Lebenslauf schreibt er 1925: "Ich sah meine Aufgabe, vielmehr einen Weg zur Rettung, längst nicht mehr auf dem Gebiet der Lyrik, oder der Philosophie, oder irgendeiner solchen Spezialistengeschichte, sondern nur noch darin, das wenige, wahrhaft Lebendige und Starke in mir sein Leben leben zu lassen, nur noch in der unbedingten Treue gegen das, was ich in mir noch leben spürte."17

Die bildnerische Ordnung ist nicht mit konkreten Ereignissen verbunden, sondern unmittelbar mit der emotionalen Ebene. Sie ist sprachfern, deshalb tauchen auch keine Personen in seinen Bildern auf. Die Sprache als Instrument der Kontrolle und auch der möglichen emotionalen Distanzierung tritt nicht dazwischen, sondern Gefühle können ungestört zugelassen werden.

Während er sich in seinem dichterischen Werk und auch in der Psychoanalyse mit seinen schmerzhaften Lebenserfahrungen auseinandergesetzt hat, ermöglicht ihm das Malen den Zugang zu den frühen Lebenserfahrungen und Bewältigungskräften des intermediären Raumes.

Während er in der Analyse vor dem Problem steht, daß "zwischen Erkennen des Wahren und Tun immer ein Zwiespalt"18 sei, so existiert für ihn beim Malen dieser Zwiespalt nicht, es gibt eine Kongruenz zwischen Erleben und Handeln, er erfährt den Malprozeß als einen ganzheitlichen Vorgang. Während er beim Malen an frühe Formen der Selbstregulierung anknüpfen und somit eine Kontinuität des Erlebens aufrechterhalten kann, ist er in der Analyse nicht nur mit den fixierten Mustern seines Erlebens und Verarbeitens unmittelbar konfrontiert, sondern auch mit der Notwendigkeit, die fixierten Muster in einem schmerzhaften Prozeß aufbrechen und verändern zu müssen.

Wenn wir uns vor diesem Hintergrund noch einmal die Entwicklungsphasen seiner Malerei ansehen, so kann folgendes festgestellt werden:

Als er zu malen beginnt, bemerkt er trotz der Schwierigkeiten bald schon die wohltuenden Wirkungen: er gewinnt Distanz zu seiner Lebensproblematik, er empfindet Freude und Entlastung, die dafür sorgen, daß er nicht aufgibt, obwohl es oft mühevoll ist, das Handwerkszeug, die Kenntnisse über Farbwirkungen und Komposition sich anzueignen. In dieser ersten Phase der Erarbeitung geht es ihm wohl auch um naturalistische Abbildung, aus meiner Sicht ist das gar nicht anders möglich: kein Mensch kann das "Wesen" einer Landschaft erfassen, der nicht zuvor ihre äußere Erscheinung möglichst genau wahrnimmt. Das, was man Abstraktion nennt, setzt zunächst Konkretion voraus. Man kann die Auseinandersetzung mit den objektiven Erscheinungsformen der empirischen Wirklichkeit nicht einfach überspringen, deshalb ist auch die Kopie nichts Anstößiges, sondern gehört zu jeder guten künstlerischen Ausbildung.

Die formale Auseinandersetzung mit der Natur hat bei Hesse von Anfang an schon das Ziel, Erkennen und Empfinden zu verbinden, die Einheit des Erlebens, die Einheit der Sinne wiederherzustellen.

Je mehr er über Materialerfahrung verfügt, um so tiefer gerät er beim Malen in einen Zustand, den man heute als "Flow-Erleben"19 bezeichnen würde: eine "autotelische" Aktivität, die also ihr Ziel in sich selbst hat und mit einem außerordentlich hohen Maß an Befriedigung verbunden ist. Es gibt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Erleben und Handeln, zwischen Handeln und Erleben. In dieser Phase hat man den Eindruck, er zähle die Blätter an den Bäumen, um keines zu vergessen- dabei geht es ihm nicht um realistische Genauigkeit, es ist nicht die Akribie und Detailversessenheit des Laienmalers, sondern er ist geradezu in einem Rausch:„...fiebernd vor Glück, fiebernd vor Spannung strich ich gierig über das Papier [...] eine gute Stunde lang keine Unterbrechung, keine Pause, keine Vernunft, kein Zusichkommen..."20, und er ist „ um nichts besorgt als um das Gleichgewicht von Rot und Braun und Gelb..." ,wie es in dem Gedicht Alter Maler in der Werkstatt heißt.

Auch die ornamentalen Wiederholungen würde ich diesem Handeln-Erleben-Strom (Flow) zuordnen. Die Selbstreflexion tritt dabei völlig zurück, die Distanz zu den Themen, mit denen er sich literarisch auseinandersetzt, ist außerordentlich entlastend. "Ich habe in diesen Jahren, seit ich mich mit dem Malen beschäftigte, zur Literatur allmählich eine Distanz bekommen, die ich nicht hoch genug einschätzen kann, und zu der ich keinen anderen Weg gewußt hätte"21, schreibt er 1924 an Georg Reinhart.

Je besser er die bildnerischen Mittel beherrscht, umso stärker nimmt er sie in seinen Dienst: er erfaßt den Symbolgehalt der farblichen und formalen Ordnungen, mit denen er, seinen Bedürfnissen entsprechend, umgeht. Daß dieser Vorgang nicht nur eine „gutartige" Regression bedeutet, sondern daß sich eine Progression anschließt, zeigt sich in den Bildern: Erst nachdem er die Landschaft ganz in seinen Dienst genommen hat, sie uneingeschränkt im Sinne seiner Bedürfnisse genutzt hat, ist er in der dritten Phase imstande, von seinen emotionalen Bedürfnissen wieder etwas Abstand zu halten und die Motive stärker im Sinne eines Gleichgewichts zwischen Subjektivem und Allgemeinem, zwischen Emotionalem und Rationalem zu bearbeiten - deshalb erscheinen seine Bilder wieder realitätsnäher, auch wenn es keine Abbildungen sind.

Die Landschaft ist für Hesse weder Idylle noch Fluchtraum, sondern der Ort der Auseinandersetzung mit basalen Lebenserfahrungen. Er kann hier auf eine überindividuelle, archaische Symbolsprache zurückgreifen, weil er nicht - wie in seiner Literatur - genötigt ist, den archetypischen Gehalt ins Individuelle zu transformieren, Biographien zu erfinden, Geschichten zu erzählen, sondern den Kern der Erfahrungen, ihren Extrakt, ihr Kondensat, in einem archetypischen Symbol verdichtet, für sich selbst sprechen und wirken lassen kann.

Ich glaube, daß es gerade die scheinbare Naivität seiner Bilder ist, die Reduktion auf das Überindividuelle und Zeitlose, das viele Menschen so unmittelbar berührt, weil es vielleicht die Verbindung zu den eigenen, nicht bewußten oder nicht eingestandenen Bedürfnissen nach Schutz und Geborgenheit, nach Wärme und Lebensfreude, nach dem Zugang zu den eigenen Regulierungs- und Bewältigungskräften schafft.

Die Bewertung seiner Malerei als laienhaft wird dem Anspruch und den Absichten Hesses nicht gerecht, aber man wird dabei daran erinnert, daß das Intellektualisieren der Kritiker auch ein Abwehrmechanismus sein kann. Hesse hat die Emotionalität eines Menschen nicht geringer bewertet als die Ratio - bei einem schöperischen, lebendigen und in diesem Sinn „gesunden" Menschen sind beide Aspekte in einem Zustand des relativen Gleichgewichts und wir sehen bei Hesse, daß es gerade das Malen ist, das zu diesem Gleichgewicht beitragen kann.

Anmerkungen

1 Hesse, H.: Gesammelte Briefe. Erster Band 1895-1921. In Zusammenarbeit mit Heiner Hesse hrg. von U. und V.Michels. Suhrkamp 1973, S. 436

2 Hesse, H.: Gesammelte Briefe. Zweiter Band 1922-1935 . In Zusammenarbeit mit Heiner Hesse hrg. von U. und V.Michels. Suhrkamp 19??, S. 120

3 Michels, V.: Farbe ist Leben. Hermann Hesse als Maler. In: Herman Hesse, Farbe ist Leben. Eine Auswahl seiner schönsten Aquarelle. Vorgestellt von Volker Michels. Frankfurt/M. u. Leipzig: Insel 1997, S. 20 ff.

4 Auchter, Th: Die Suche nach dem Vorgestern - Trauer und Kreativität. In: Hartmut Kraft (Hrsg.), Psychoanalyse, Kunst und Kreativität heute. Die Entwicklung der analytischen Kustpsychologie seit Freud. Köln: DuMont 1984, S. 226)

5 Winnicott, D.W.: Vom Spiel zur Kreativität. Stuttgart 1973

6 Freud, S.: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910). In: S.F., Bildende Kunst und Literatur. Studienausgabe Bd. X, Frankfurt/M.: Fischer 1969, S. 149

7 Hesse, H.: Peter Camenzind. In: Hesse, Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987. Bd. 1, S. 364

8 Hesse, H: Kurzgefaßter Lebenslauf. In: Hesse, Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987. Bd. 6, S. 392

9 Michels, V.: Hermann Hesse in Augenzeugenberichten. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987, S. 18f.

10 Bohleber, W.: Identität und Selbst. Die Bedeutung der neueren Entwicklungsforschung für die psychoanalytische Theorie des Selbst. In: Psyche 46/1992, S.336-365

11 Stern, A.: Die Expression. Zürich 1978 12 Kris, E.: Die ästhetische Illusion. Phänomene der Kunst in der Sicht der Psychoanalyse. Frankfurt 1977

13 Balint, M.: Therapeutische Aspekte der Regression. Reinbek b. Hamburg 1970

14 Hesse, H.: Klein und Wagner. In: Hesse, Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987. Bd.5, S. 286

15 Klein, M./Riviere, J.: Seelische Urkonflikte. Liebe, Haß und Schuldgefühle.Frankfurt/M.: Fischer 1983, S. 134

16 In einem Brief an einen Leser, 1931. In: Hesse, H.: Ausgewählte Briefe. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1874, S. 52

17 Hesse, Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1987. Bd. 6, S. 403

18 in einem Brief an den Maler Ernst Kreidolf, 1916

19 Csikszentmihalyi, M.: Das Flow-Erlebnis. Stuttgart 1985

20 Hesse, H.: Malfreude, Malsorgen (1928). In: Hermann Hesse, Magie der Farben. Frankfurt/M.: Insel 1980, S. 45

21 Hesse, H.: Magie der Farben. Frankfurt/M.: Insel 1980, S. 91