© by Rudolf Probst
revised by HHP 12/3/97

"Im Zickzack zwischen Trieb und Geist..."

 Zur Entstehungsgeschichte von Hermann Hesses Steppenwolf-Roman
Von Rudolf Probst
 

Erschienen in Quarto Nr. 8 (1997), Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs, Seite 69 - 80.

 
 
  
Ausschnitte aus dem Berner Steppenwolf-Manuskript (1926/27),  Seite 154.
 
 
 
 
"Wie du, Vorfahr und Bruder, geh auch ich
Im Zickzack zwischen Trieb und Geist durchs Leben,
Heute Weiser, morgen Narr, heute inniglich
dem Gott, morgen heiss dem Fleisch ergeben."
 

 Die ersten Zeilen aus Hesses Gedicht An den indischen Dichter Bhartrihari aus dem Krisis-Zyklus umschreiben die Problematik der Steppenwolf-Schriften in mehrfachem Sinn recht gut, - dass hier von Schriften im Plural die Rede ist, mag erstaunen, ist doch heute oft nur mehr Hesses vielgelesener, aber in unseren Breitengraden in germanistischen Kreisen stiefmütterlich behandelter Roman bekannt. Die immer noch hohen Auflagenzahlen belegen das nachhaltige Interesse an diesem Werk; es scheint, Der Steppenwolf gehöre nach wie vor zur intellektuellen Leser- und LeserInnen-Biographie, vorzugsweise zum pubertären Abschnitt derselben, wovon sich der Schreibende gar nicht etwa ausnehmen will, hätte doch wohl (auch) sein Lebensverlauf und seine Berufswahl ohne die Hesse-Lektüre in diesem diffizilen Lebensabschnitt vermutlich andere Geleise eingeschlagen...

Dass die Metapher vom "Zickzack zwischen Trieb und Geist" sowohl die subjektive Problematik des Dichters wie auch des Romanhelden umschreibt, ist verschiedentlich untersucht, erläutert und erklärt worden. Hans Mayer etwa charakterisiert den Roman in nuce als "Buch der Lebenskrise, der Künstlerkrise, der Gesellschaftskrise".[1] Dieser interpretatorische Aspekt bedarf hier keiner weiteren Besprechung. Aber auch in einem anderen Sinn beschreibt der umgangssprachliche Begriff "Zickzack" in der für die Krisis-Gedichte charakteristischen Verwendung trivialer Ausdrücke und Bilder die Entstehungs- und Druckgeschichte der Texte aus dem Steppenwolf-Werkkomplex. Der Roman ist in einem komplexen Umfeld verschiedener Texte entstanden, als deren Schluss- und Kulminationspunkt er aufzufassen ist. Neben Gedichtzyklus und Roman gehören dazu auch Kurgast und das Tagebuch eines Entgleisten, die quasi als autobiographisch-psychologische (Vor-) Studien in den Roman mit einfliessen.

Zu Beginn der zwanziger Jahre erleidet der bald fünfzigjährige Hesse eine tiefe Lebenskrise, die sich in den Texten Tagebuch eines Entgleisten (1922) und Kurgast (unter dem Titel Psychologia Balnearia 1923 entstanden) äussert. In vielen Briefen aus jener Zeit klagt Hesse über Depressionen und spielt wiederholt auf Selbstmordgedanken an. Im August 1925 erwähnt er in einem Brief an Georg Reinhart erstmals Pläne zu einem "phantastische[n] Buch vom Steppenwolf, [...] der komischerweise darunter leidet, dass er zur Hälfte ein Mensch, zur anderen ein Wolf ist." (Mat., S. 49) Der Tiefpunkt der Krise ist wohl im Winter 1925/26 erreicht. In diesem Zeitraum entsteht die überwiegende Mehrzahl der Krisis-Gedichte. Hesse betont in einem Brief an Heinrich Wiegand vom 14. Oktober 1926, er "schreibe keine Dichtung, sondern eben Bekenntnis, so wie ein Ertrinkender oder Vergifteter sich nicht mit der Frisur beschäftigt oder mit der Modulation seiner Stimme, sondern eben hinausschreit." Er schickt das Manuskript der Krisis-Gedichte am 18. Juni 1926 an S. Fischer. Der Verleger widersetzt sich aber vorerst einer Veröffentlichung, und auch Hesses späteres Ansinnen, die Gedichte zusammen mit dem Roman erscheinen zu lassen, findet kein geneigtes Ohr. Erst die für 1928 geplante Veröffentlichung als einmaliger und auf 1'150 Exemplare limitierter Privatdruck erhält Fischers Zustimmung. Der Sonderdruck wird in keinem Verlagsprospekt erwähnt, wie Peter de Mendelssohn in seinem Aufsatz Die Kreuz- und Querspinne festhält. Mendelssohn vertauscht allerdings die Chronologie der Ereignisse, wenn er behauptet, Fischer habe die Krisis-Gedichte, die er als "Nachwehe des Romans" (Mat., S. 261) apostrophiert, erst im Frühjar 1927 erhalten. Mendelssohns Verwechslung der zeitlichen Abfolge mag mit der Publikationsreihenfolge im 'Zickzack' zusammenhängen: Die Gedichte sind erst nach dem Roman erschienen, aber vor diesem entstanden.

Im November 1926 erscheint eine Auswahl der Gedichte in der Neuen Rundschau unter dem Titel Der Steppenwolf. Ein Stück Tagebuch in Versen. Die Reaktionen auf die Gedichte sind recht zwiespältig: Von einigen wenigen - unter ihnen Thomas Mann, Stefan Zweig und Oskar Loerke - als neuartiger Ausdrucksversuch des Dichters gelobt, rufen sie bei der Mehrzahl der Leser und Leserinnen, nicht zuletzt bei S. Fischer selbst, Widerwillen und Ablehnung hervor. Hesse macht sich in der Folge daran, die Gedichte in eine Prosafassung umzuarbeiten. In nur sechs Wochen, vom 16. Dezember 1926 bis zum 11. Januar 1927 beendet Hesse das Typoskript des "Prosa-Steppenwolfs", wie es Hesse in verschiedenen Briefen aus dieser Zeit bezeichnet. Ein Durchschlag dieses Manuskripts liegt im Schweizerischen Literaturarchiv, ein anderer, sehr wahrscheinlich die Druckvorlage, in der Bibliothek der ETH in Zürich.

Einige Briefstellen bezeugen die kurze Entstehungszeit: Die Chronik in den Mat., S. 34, verzeichnet im September 1926 Hesse Wiederaufnahme der Arbeit am Steppenwolf. Am 16. Dezember, kurz nach dem Eintreffen in seinem Winterquartier in Zürich, schreibt Hesse an Otto Hartmann, er sitze vor "einer sehr unerfreulichen Arbeit, denn seit bald drei Jahren fand ich aus meiner menschlichen und geistigen Vereinsamung und Erkrankung keinen anderen Ausweg, als indem ich diesen Zustand selber zum Gegenstand meiner Darstellung machte". Am 22. Dezember meldet Hesse Lisa Wenger, dass die "erste Niederschrift nahezu fertig" sei, er es aber "nochmals vollkommen durcharbeiten" wolle. Mit der ersten Niederschrift ist höchstwahrscheinlich der erste, handschriftliche Entwurf des Romans gemeint, der sich in Hesses Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befindet. Und an Hugo Ball schreibt er am 2. Januar 1927: "Zur Zeit sitze ich Tag für Tag, mit schmerzenden Augen und mit schmerzenden Gicht-Händen, an der Schreibmaschine, um den Prosa-Steppenwolf ins Reine zu schreiben, der nach Fischers Absicht vielleicht schon zum Geburtstag [Hesses bevorstehender 50. Geburtstag am 2. Juli 1927, zu welchem gleichzeitig auch Hugo Balls Hesse-Biographie veröffentlicht werden soll; R.P.] als Buch erscheinen soll." In einem Brief an seine Schwester Adele vom 9. Februar 1927 lässt sich Hesse über den Unterschied zwischen Prosa-Steppenwolf und den Steppenwolf-Gedichten aus:

"Es gibt den Roman Steppenwolf, in Prosa, der ist kürzlich zu Ende geschrieben und liegt beim Verleger, erscheint so bald wie möglich. Gestern sagte mir Fischer, der ihn noch auf der Reise zu Ende gelesen hatte, seine Meinung darüber. Ich habe ihn seit 25 Jahren nie so erschüttert, begeistert und auch beunruhigt von einem neuen Buch sprechen hören. Das Buch wird Aufsehen machen (...) Ausser dem Roman gibt es aber auch noch die Gedichte. Diese sind, (einige davon lerntest Du ja kennen und warst entsetzt davon, ebenso wie manche andre Freunde) teilweise in der Rundschau abgedruckt gewesen." (Die zitierten Briefstellen finden sich alle in Mat., S. 102 - 106.)

Diese und weitere Briefstellen legen die Schlussfolgerungen nahe, dass Hesse (1.) die Prosafassung des Steppenwolf nach einer ersten Arbeitsphase im September 1926 in nur sechs Wochen vom 16. Dezember bis zum 11. Januar 1927 in Zürich fertiggestellt hat; (2.) eine zwei bis dreijährige Vorbereitungszeit dazurechnet, in der auch die Krisis-Gedichte entstanden sind; und dass er (3.) konsequent zwischen Prosa- und Versform des Steppenwolf-Stoffs unterscheidet.

Untersucht man den Zusammenhang der Gedichte mit der Prosafassung, wie dies etwa Peter Spycher in seinem Buch Eine Wanderung durch Hesses Lyrik ansatzweise unternommen hat [2], so lässt sich Hesses Vorgehen als eigentliche Transformation der lyrischen Texte in die Prosafassung beschreiben. Die Gedichte des Steppenwolfzyklus verleihen in teils erhabenem, teils in volkstümlich-derbem bis vulgärem Ton der midlife-crisis eines lyrischen Ich Ausdruck. Sie lassen sich in zwei Arten aufteilen: Es gibt Gedichte, die konkrete Situationen beschreiben, wie die Schilderung eines Abends in gutbürgerlichem Haus, in dessen Verlauf ein Goethebildnis zum Zerwürfnis mit den Gastgebern führt:

"Sie hatten mich zu Abend geladen, [...]
Und dann hingen bei diesen Leuten
Solch dumme Bilder an der Wand,
Ein Goethe und mancher andre Kunstgegenstand,
Schliesslich spielte auch noch jemand Klavier
Mit kräftiger, doch ahnungsloser Hand,
Und kurz, ich hielt es nicht mehr aus
In dem leider so achtbaren Haus.
Ich sagte der Hausfrau irgendeine Schnödigkeit, [...]
Traurig bin ich davongezogen, um irgendwo ein kleines Mädchen zu kaufen,
das nicht Klavier spielt und sich nicht für Kunst interessiert [...]" (Ged. S. 514)

Das Gedicht Missglückter Abend, entstanden am 26. März 1926, bildet ganz offensichtlich die Vorlage für die Episode im Roman: Hier ist Haller bei einem Professor und dessen Frau zu Gast, und auch hier bildet das Goethebildnis Anlass für Hallers vorzeitigen Aufbruch. Unmittelbar nach diesem ‘missglückten Abend’ lernt er zufällig die Prostituierte Hermine kennen; im Gedicht bekundet das Ich seine Absicht, irgendein "Mädchen zu kaufen": Gedicht wie Roman beinhalten also dieselben Handlungsmomente. Im Roman erfolgt allerdings nach der Schilderung der "unerquicklichen Abenstunde" eine Reflexion Harry Hallers, die im Gedicht fehlt und allenfalls durch die Rezipienten zu leisten wäre, nämlich in Bezug auf die Bedeutung des Vorfalls, der für Haller "ein letztes Misslingen und Davonlaufen, (...) mein Abschied von der bürgerlichen, der moralischen, der gelehrten Welt" (S.92-93) darstellt.

Verschiedene andere Gedichte (Am Morgen nach dem Maskenball, Armer Teufel am Morgen nach dem Maskenball u.a.) thematisieren Feste, speziell den Maskenball, als gesellschaftliche Anlässe, bei denen dem Aussenseitertum des Ich in seinem Verlangen und gleichzeitigen Unvermögen, die Gemeinsamkeit unbeschwert zu geniessen, Ausdruck verliehen wird. Auch der Maskenball kommt im Roman an prominenter Stelle, als Abschluss der eigentlichen Handlung und Vorbereitung auf das magische Theater, wieder vor.

Die zweite Art von Gedichten sind, zum Teil unverhohlen, autobiographische Selbstporträts wie etwa Bei der Toilette, Betrachtung oder Neid und beschreiben den desolaten Zustand des lyrischen Ich. Die Themen dieser Gedichte finden alle Eingang in den Roman: der Dichter als einst zurückgezogen lebender und naturverbundener Mann, der sich im mittleren Alter für gesellschaftliche Anlässe zu interessieren beginnt, exzessiv Alkohol konsumiert, Jazzmusik hört und tanzen lernt, mit Frauen anbändelt und sich kurzen Liebesverhältnissen hingibt; die Dichotomie in seinem Wesen, sein Zerrissensein zwischen eigenem hohen Anspruch und allzugewöhnlicher Wirklichkeit, sein Leben im ‘Zickzack’ zwischen Bürgertum und dem idealisierten Künstlertum der "Unsterblichen".

Als Zeugnisse der subjektiven Krise analysieren die Gedichte dieser zweiten Art die psychische Verfassung des Ich, für den Verfasser haben sie letztlich wohl therapeutische Funktion, jedenfalls betont Hesse zum Zeitpunkt der Publikation der Krisis, zwei Jahre nach ihrer Entstehung, in einem Brief an Olga Diener vom 27. April 1928, die Steppenwolfgedichte seien für ihn "schon nicht mehr so lebendig, sie sind zwei bis vier Jahre alt und haben mit meinem Leben von heute schon nichts mehr zu tun." (Mat., S. 128)

Würde man versuchen, die Analogien von lyrischem Text mit der Prosafassung auf den beiden Variationen zugrunde liegende autobiographische Erlebnisse zurückzuführen, was für das Gedicht Missglückter Abend vielleicht möglich wäre und für das Motiv des Maskenballs sicher zutrifft, käme man in der Erklärung trotzdem nicht wirklich weiter. Eine solche Reduzierung des Textes auf biographische Elemente käme vielmehr einem eigentlichen Erklärungsabbruch gleich, der die spezifische Eigenart der Gattungen unter den Tisch wischt. Dass derselbe Stoff in unterschiedlichen Gattungen gestaltet wird, hat nicht in erster Linie biographische Gründe, sondern literarische: Während das Gedicht als einzelnes Gedicht eine isolierte Situation oder Stimmung schildert, beschreibt der entsprechende Abschnitt im Roman eine Station in einem wohlkonstruierten Handlungsverlauf, eine Situation, die auf andere Stationen, Themen und Motive innerhalb des gesamten Buches bezogen ist.

Was den Roman vom Gedichtzyklus unterscheidet, ist, wie bereits angedeutet, das Reflexionsniveau. Die midlife-crisis des lyrischen Ich wird im Zyklus analysiert, seine Stimmung geschildert; das Ich wird in konkreten Situationen gezeigt, die die seelische Störung auslösen und/oder verstärken. Die Krise in den Gedichten hat ihre Ursachen in der so veranlagten Persönlichkeit des dargestellten Ichs. Ganz richtig bemerkt Spycher, dass die Gedichte "subjektiver als der Roman" seien, und dass sie "kaum eine Ahnung von ‘Heilung’" vermittelten.[3]

Ganz anders verhält sich dies im Roman: Hesse versucht, die subjektive psychische Krise des Protagonisten in die allgemeine Zeitsituation einzuordnen. Die Krise wird als eine zeitbedingte dargestellt, die sich im Protagonisten in einer spezifischen Art und Weise äussert. Im oben zitierten Brief an Lisa Wenger betont Hesse, der Roman drehe "sich um dasselbe Problem wie meine neuen Gedichte, zieht den Kreis aber viel weiter." Während die Gedichte die Krise aus dem subjektiven Gesichtswinkel eines lyrischen Ich beschreiben, analysiert der Roman durch seine Brechungen in drei verschiedene Erzählperspektiven, die durch die Aufteilung der Erzählfunktion in Herausgeber, Traktatverfasser und Ich-Erzähler erfolgt, zusätzlich auch die Gründe für diese Persönlickeitskrise. Die Ursachen für Harry Hallers Leiden liegen nun nicht mehr in der Struktur seines Wesens allein, sondern  vielmehr in der für den empfindsamen Intellektuellen äusserst ungünstigen Zeitsituation zwischen den beiden Weltkriegen, den roaring twenties mit den wiederaufkeimenden Nationalismen, dem Wirtschaftsaufschwung nach der Depression und den Wirren nach dem ersten Weltkrieg. Die Ursachen werden im Traktat philosphisch-psychoanalytisch als Prinzip der Individuation und Sehnsucht nach Integration gedeutet.[4] Die Zeitsituation läuft Hallers Harmoniebedürfnis entschieden zuwider: Sein Anspruch und die Wirklichkeit stehen in einem offenen Widerspruch, der verschiedentlich im Buch, meist durch Hermine,  präzise diagnostiziert wird [5]: "Recht hast du, Steppenwolf, tausendmal recht, und doch musst du untergehen. Du bist für diese einfache, bequeme, mit so wenigem zufriedene Welt von heute viel zu anspruchsvoll und hungrig, sie speit dich aus, du hast für sie eine Dimension zu viel." (S.165) Diese "Dimension zu viel" äussert sich in Hallers Sehnsucht nach dem "Reich jenseits der Zeit und des Scheins" (S.168), das Reich der Unsterblichen, das im Gedicht Die Unsterblichen gestaltet wird. Auch dieses Gedicht, das neben dem Titelgedicht Der Steppenwolf Eingang in den Roman gefunden hat, ist im Winter 1925/26 entstanden und gehört ursprünglich zum Zyklus der Krisis. In strophischer Gegenüberstellung benennt es den fundamentalen Gegensatz zwischen gepeinigter Menschenwelt und dem abgeklärten Reich der Unsterblichen.

Ich möchte nun für die These argumentieren, dass die Erkenntnis der Zeitbedingtheit der Krise und deren Rückführung auf das Individuationsprinzip Ergebnis des Gattungswechsels von den Steppenwolf-Gedichten zum Steppenwolf-Roman ist. Ein erstes Argument ergibt sich bereits aus den spezifischen Eigenarten der Gattungen: Die Lyrik als unmittelbarste Form des subjektiven Ausdrucks eignet sich zur Darstellung einer persönlichen Verfassung zu einem bestimmten Zeitpunkt, der Roman, insbesondere der moderne Roman, als dessen Vorläufer Der Steppenwolf durchaus anzusehen ist, ‘zieht seine Kreise weiter’, in dem er philosophische und psychoanalytische Überlegungen und Motive in weit grösserem Umfang einbeziehen kann, als dies in Gedichten möglich ist.

Der oben skizzierte Entstehungsverlauf im ‘Zickzack’ sowie unsere kurze Charakterisierung der Gedichte und des Romans legen die Vermutung nahe, dass Hesses Depression zuerst einmal in den Krisis-Gedichten unmittelbaren Ausdruck gefunden hat. Erst später im Roman versucht er, den Gründen für die Krise nachzugehen. Ein Blick in die erhaltenen Steppenwolf-Typoskripte bestätigt diese Vermutung. Es lässt sich zeigen, dass sich Hesses Erkenntnis der Ursachen und Gründe für die Krise erst im Verlauf seiner Umarbeitung der Gedichte in die Prosafassung einstellt.

Das Berner Steppenwolf-Manuskript

Zur Manuskriptlage

Mileck verzeichnet zwei Manuskripte [6] zum Steppenwolf, eines befindet sich in der Bibliothek der Eidgenössisch-Technischen Hochschule in Zürich, es ist Teil der Leuthold-Hesse-Sammlung. Das andere aus dem Hesse-Nachlass im Deutschen Literaturarchiv in Marbach ist ein handschriftlicher Entwurf mit offenbar abweichendem Herausgebervorwort.

Das Typoskript-Original hat vermutlich als Leseexemplar für Hesses Verleger S. Fischer gedient, dem es Hesse kurz nach der Fertigstellung zugestellt haben dürfte. Es ist nicht erhalten. Das Typoskript in Zürich, ein Durchschlag des Original-Typoskripts, hat sehr wahrscheinlich als Druckvorlage gedient, zumal es Spuren von Druckerschwärze und verschiedene handschriftliche Satz- und Umbruchzeichen aufweist. Als Arbeitstyposkript weist es nachträgliche, handschriftliche Änderungen von Hesse auf; es besteht aus einer maschinenschriftlichen Grund- und einer handschriftlichen Änderungsschicht. Die Grundschicht enthält einzelne Satzanweisungen, das Typoskript weicht nur in Details vom Berner Durchschlag ab.
 

Das Steppenwolf-Typoskript im SLA

1993 erhielt das Schweizerische Literaturarchiv ein Steppenwolf-Manuskript [7] als Geschenk von Kurt Marti. Es ist ebenfalls ein Durchschlag des verlorenen Originaltyposkripts. Ein undatierter Brief Hesses an Ernst und Sascha Morgenthaler, der dem Durchschlag beiliegt, erklärt Herkunft und Verbleib des Manuskripts: In diesem Brief bittet Hesse die beiden, das Typoskript nach der Lektüre an Hans Morgenthaler ("Hamo") weiterzuleiten, was offenbar auch geschehen ist. Ein Teil des Nachlasses von Hamo, und mit ihm das Steppenwolf-Typoskript, gelangte in den Besitz des Schriftstellers und Pfarrers Kurt Marti, der dem Schweizerischen Literaturarchiv zuerst das Manuskript, später auch den Teilnachlass Hans Morgenthalers überlassen hat.
 
Manuskriptseite aus dem Steppenwolf (1926/27):
Herausgebervorwort mit dem nachträglich hineincollagierten Abschnitt zum
Realitätsgehalt von Hallers Aufzeichnungen. (SLA)
 

Das bis jetzt noch in keiner Bibliographie verzeichnete Berner Steppenwolf-Manuskript enthält handschriftliche Änderungen und Korrekturen [8] von Hermann Hesse. Der Durchschlag steht mit Ausnahme einiger kleinen, orthographischen Abweichungen und Unterschieden bezüglich Zeichensetzung und Gross- und Kleinschreibung textgenetisch nahe bei der Erstpublikation. Die (geringen) Abweichungen von der Druckfassung lassen sich dadurch erklären, dass Hesse in den Druckfahnen noch weitere Änderungen vorgenommen hat. Es zeigt eine Gliederung in dieselben Abschnitte wie die Druckfassung. Das Typoskript ist in zwei verschiedenen Schrifttypen verfasst, einer kursiven und einer geraden, "normalen"; die überwiegende Mehrzahl der Blätter weisen Quartformat auf. Die kursive Schrift stammt von Hesses Tessiner Schreibmaschine, der dem Manuskript beiliegende Brief an die Familie Morgenthaler, der nach Hesses Rückkehr nach Montagnola verfasst ist, zeigt dieselbe kursive Type; die gerade Schrift stammt von der Schreibmaschine, die Hesse in Zürich benutzt hat.[9] Für die Entstehung des Textes bedeutet dies, dass der erste Teil des Manuskripts bis zum Beginn der eigentlichen Handlung, im Manuskript auf der Seite 60, in der Taschenbuchausgabe auf Seite 95, im Tessin entstanden ist, der Schluss (und die Ergänzungen im Herausgebervorwort) aber in Zürich. Ich will im folgenden die einzelnen Abschnitte des Berner Steppenwolfmanuskripts kurz beschreiben und jeweils die Bedeutung der textologischen Einzelbeobachtungen für Textgenese und Interpretation reflektieren.
 

 Vorwort des Herausgebers

Das Vorwort, dessen ursprünglicher Titel "Der Steppenwolf" handschriftlich in "Vorwort des Herausgebers" geändert wird, ist weitgehend identisch mit der publizierten Version; es finden sich einige wenige Abweichungen gegenüber der Buchfassung.[10] Die handschriftlichen Änderungen in diesem Abschnitt sind beinahe vollständig in die Buchausgabe übernommen worden. Neben eigentlichen Korrekturen betreffen sie meist stilistische Änderungen und einzelne raffende Kürzungen. Paginiert von 2 bis 21b ist es offensichtlich in zwei Arbeitsgängen entstanden: Die ältere Grundschicht steht in einer kursiven Schreibmaschinenschrift, in welche auf S. 20 der Abschnitt über den Realitätsgehalt von Hallers Manuskript in normaler Typoskriptschrift hineincollagiert worden ist. Der Herausgeber vermutet in diesem Abschnitt, dass Hallers Aufzeichnungen "zum grössten Teil Dichtung sind, nicht aber im Sinne willkürlicher Erfindung, sondern im Sinne eines Ausdrucksversuches, der tief erlebte seelische Vorgänge im Kleide sichtbarer Ereignisse darstellt." Dass dieser ganze Abschnitt erst nachträglich in das Typoskript hineincollagiert wird, weist auf eine Metareflexion des Autors über sein Schreiben hin, die sich im Verlauf der Ausarbeitung der Prosafassung einstellt. Seite 21 im Manuskript enthält ebenfalls eine nachträgliche Ergänzung, auch in normaler Schrift, die sich über den Seitenumbruch hinwegzieht, weshalb eine Seite 21b nachträglich eingeschoben werden muss. Es sind dies die Schlussabschnitte - im Buch durch Alinea abgetrennt - des Herausgebervorworts, in denen der Herausgeber Hallers Aufzeichnungen als Zeitdokument zu charakterisieren versucht. Sie geben weiteren Aufschluss über die Art der erwähnten Metareflexion:

"Ich sehe in ihnen aber etwas mehr [als "die pathologischen Phantasien eines einzelnen, eines armen Gemütskranken"; R.P.], ein Dokument der Zeit, denn Hallers Seelenkrankheit ist - das weiss ich heute - nicht die Schrulle eines einzelnen, sondern die Krankheit der Zeit selbst, die Neurose jener Generation, welcher Haller angehört, und von welcher keineswegs nur die schwachen und minderwertigen Individuen befallen scheinen, sondern gerade die starken, geistigsten, begabtesten.
Diese Aufzeichnungen [...] sind ein Versuch, die grosse Zeitkrankheit nicht durch Umgehen und Beschönigen zu überwinden, sondern durch den Versuch, die Krankheit selber zum Gegenstand der Darstellung zu machen."
 
Die nachträgliche Collage der Abschnitte zu Hallers Aufzeichnungen als Zeitdokument sind wichtig für das Verständnis des Textes und seiner Genese. Die Abschnitte sind in der normalen Type geschrieben, im Gegensatz zur kursiven Schrift des übrigen Vorworts und des ganzen ersten Teils. Sie sind also frühestens nach der Fertigstellung der ersten Hälfte des Romans ins Vorwort eingefügt worden. In der Mitte der Seite 60 ändert die Schreibmaschinentype: Die kursive Schrift wird bis zum Ende des Manuskripts durch eine gerade Schrift abgelöst. Im Abschnitt "So zog es mich, spät in der Nacht..." setzt die neue Type ein, der Absatz steht in der Taschenbuchausgabe auf S. 95.

Dass diese Textabschnitte in der ursprünglichen Version noch nicht enthalten sind, weist darauf hin, dass sich Hesse erst im Verlauf der Umarbeitung der Gedichte in die Prosafassung dieser zeitkritischen Dimension seiner Steppenwolf-Gedichte bewusst wird. Offenbar war der Steppenwolf ursprünglich als prosaische Darstellung der persönlichen Lebenskrise desPseudonyms Harry Haller geplant, die nicht über die Gestaltung derselben Thematik in den Krisisgedichten hinausgehen sollte. Erst im Verlauf der Arbeit an der Beschreibung seiner Krise in Prosa wird sich der Verfasser der zeitbedingten Gründe für ebendiese Krise bewusst. Durch die nachträgliche Einfügung dieser Thematik ins Herausgebervorwort wandeln sich Idee und Zielrichtung des Romans von der biographischen Dokumentation zur zeitkritischen Analyse. Ohne die nachträglich eingefügten Abschnitte kann das Vorwort nämlich dahingehend gelesen werden, dass die Aufzeichnungen Hallers lediglich als "pathologische Phantasien" eines Einzelnen aufzufassen seien, die in keiner Relation zur Zeitsituation stehen. Die nachträgliche Einfügung Hesses verändert die Rezeptionshaltung der Leser und Leserinnen, indem ihre Aufmerksamkeit durch die neuen Abschnitte auf die Bezüge zur Zeitsituation gelenkt wird.
 

Harry Haller's Aufzeichnungen

Auf Seite 22 des Manuskripts beginnt der erste Teil der Aufzeichnungen Hallers mit dem Titel und einer maschinenschriftlichen Klammerbemerkung: "Notiz für den Setzer: Ueberschrift auf extra Seite". Titel wie Satzanweisung hat Hesse durchgestrichen, in einem späteren Arbeitsgang die Korrektur aber durch Punktierung rückgängig gemacht. Für die Buchausgabe nimmt er offensichtlich in den Fahnen einige Kürzungen vor, die im vorliegenden Typoskript nicht als solche gekennzeichnet sind.[11]

Interessant erscheint die durchgängige Änderung der "anarchistischen Abendunterhaltung" in "magisches Theater" oder "Zaubertheater", die Hesse auf der handschriftlichen Änderungsschicht vornimmt. Im Typoskript ist durchwegs nur von der "anarchistischen Abendunterhaltung" die Rede. In der überarbeiteten Fassung, auf der Änderungsschicht ist meist vom magischen Theater die Rede, der Begriff der "anarchistischen Abendunterhaltung" taucht im Buch nur noch einmal auf (S. 45). Während der Begriff des "magischen Theaters" Konnotationen an Magie, Zauberei und Illusionstheater wachruft, hat der andere eine eher politische (und im Sinne der Dadaisten, die ihre Veranstaltungen mit demselben Begriff umschrieben haben, allenfalls eine kulturelle) Nebenbedeutung. Im Manuskript auf Seite 130, wie auch im weiteren Verlauf der Erzählung, ist nicht mehr die Rede von der "anarchistischen Abendunterhaltung", sondern bereits die maschinenschriftliche Grundschicht bringt die Bezeichnung "magisches Theater". Daraus lässt sich schliessen, dass der zweite Teil der Aufzeichnungen nach der Überarbeitung des ersten Teils und des Traktats geschrieben worden ist.
 

Traktat vom Steppenwolf

Nach der Manuskriptseite 39 wird ein unpaginiertes Titelblatt "Traktat vom Steppenwolf. / Nicht für Jedermann" eingeschoben; es enthält erneut eine "Notiz für den Setzer: ( Dieser "Traktat" wird im Buch durch einen eingeh[e]fteten farbigen Umschlag und eigene Paginierung hervorgehoben, wie eine eingeheftete fremde Schrift, eventuell auch durch einen anderen, etwas kleineren Schriftgrad.)", daran schliesst auf den Seiten 1 bis 29 der auch im Manuskript separat paginierte Traktat an.[12]

Auf der Rückseite der Seite 40 ist eine frühere, von Hesse verworfene Titelvariante zum Traktat mit dem Wortlaut "HARRY / oder der Steppenwolf. / Eine Studie." überliefert. Die Bezeichnung "Studie" lässt eher an eine wissenschaftliche Abhandlung denken, während der später verwendete Terminus "Traktat" in der Bedeutung viel stärker oszilliert zwischen philosophischen Untersuchungen, wie etwa bei Spinoza oder Wittgenstein, und billigen, oft religiösen Erbauungssschriften, den "Traktätchen" der Jahrmärkte. Die grössere Bedeutungsvarianz entspricht dem eigentümlichen Stil des Traktats im Roman weit mehr, einem Stil, der zwischen psychoanalytischem Vokabular, metaphysischen Spekulationen und saloppem Traktätchen-Tonfall hin- und herwechselt.

Das Berner Typoskript enthält als einziger erhaltener Textzeuge eine Manuskriptfassung des Traktats. Im Marbacher Entwurf (wie Mileck vermerkt) wie auch in der Zürcher Druckvorlage fehlt dieser Abschnitt ganz. Der Verbleib des Traktats aus der Zürcher Typoskriptfassung lässt sich erklären: Nach der Beendigung des Typoskript zögert Hesse offenbar, das Herausgebervorwort in den Roman einzubeziehen und schreibt diesbezüglich an seinen Verlag. Die Antwort des Verlags vom 23. Februar 1923 ist im Berner Typoskript erhalten:[13]

 

 
 

"Herrn Hermann Hesse, Zürich.
Sehr verehrter Herr Hesse!
Wir bestätigen hierdurch dankend den Empfang Ihrer Postkarte vom 21.II. und haben als Ihre Adresse Zürich vorgemerkt. Die Korrekturbogen Ihres neuen Romans schicken wir in dreifacher Anzahl an Sie und ein Exemplar an Herrn Ball. Die Korrekturbogen Ihres neuen Gedichtbandes wird unsere Herstellung für Sie zu beschaffen suchen.
Was nun Ihre Frage wegen der Weglassung der Einleitung des "Steppenwolfes" anbelangt, so wird Herr Loerke dazu im Lauf der kommenden Woche Stellung nehmen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
S. Fischer/Verlag A.G.
ppa."
 
Oskar Loerke, durch Krankheit an einer früheren Antwort verhindert, hält in seinem Brief an Hesse vom 7. März 1927 (Mat. S. 263-264) fest: "Als ich mich nach drei Wochen dann wieder im Verlag umtat, war Ihr Steppenwolf in der Druckerei." Dass Loerke dies als Entschuldigung für seine verspätete Antwort braucht, bedeutet, dass im Verlag nur ein Steppenwolfmanuskipt vorhanden ist, das er nicht einsehen kann, da es gerade gesetzt wird. Er fährt fort: "Die Fahnen [des Steppenwolf; R.P.] habe ich nun erst seit ein paar Tagen beisammen, der Traktat wurde in seiner Schreibmaschinenform rasch für mich herzitiert (...)" Dies erklärt, warum in der Druckvorlage, die sich jetzt in Zürich befindet, gerade der Traktat fehlt: Loerke hat ihn offensichtlich nach der Lektüre nicht wieder in das Typoskript eingeordnet. Der fehlende Traktat ist gleichzeitig ein weiteres Indiz dafür, dass das Zürcher Typoskript tatsächlich die Druckvorlage ist. Ob die Manuskriptfassung des Traktats in Loerkes Papieren erhalten ist, entzieht sich meiner Kenntnis.

Der Schlussabschnitt von Loerkes Brief enthält eine kurze Analyse der Steppenwolf-Problematik:

"Ausserordentlich finde ich, wie an allen Wegbiegungen die Zeit in Harrys Seele mündet und wie er sich mit dem Ganzen auseinandersetzen muss, während er sich mit sich selbst auseinandersetzt. Dem dienen sehr die vielfach geänderten Perspektiven. Das "Vorwort des Herausgebers" muss darum meiner Ansicht nach durchaus in dem Buche bleiben. Fast bedaure ich, dass nicht auch die gesamten Steppenwolf-Gedichte darinstehen, so stark wirken die, welche Sie aufgenommen haben, an ihrem Ort."

Sehr feinsinnig erkennt Loerke die Bedeutung des Steppenwolf-Romans als Analyse der Zeitsituation, und er bedauert "fast", dass diesem Zeitdokument nicht die viel subjektiveren Gedichte in einer Ausgabe, wie es Hesse gewünscht hat, gegenübergestellt werden. Sehr richtig ist auch seine Einschätzung der Bedeutung des Vorworts für die Perspektivenbrechung innerhalb des Romans. Hesses Zögern gegenüber der Publikation des Herausgebervorworts hat aber trotzdem Konsequenzen für die Interpretation des Romans. Es bedeutet nämlich, dass Hesse das Vorwort in bezug auf die Gesamtkonzeption für entbehrlich hält, was wiederum ein neues Licht auf die Segmentierung als eine der Grundlagen der Interpretation wirft: Theodore Ziolkowski beispielsweise gliedert den Steppenwolf in "drei Hauptabschnitte": "Einleitungsteil, eigentliche Handlung und das sogenannte 'Magische Theater'". "Der Einleitungsteil wiederum hat drei Unterteilungen: Einführung [Herausgebervorwort; R.P.], Anfang des eigentlichen Buches und der 'Tractat'". (Mat. S. 354-355). Die zweifache Dreiteilung erlaubt es ihm, den Roman in Analogie zur musikalischen Form der Sonate zu setzen. Aber offenbar ist diese Gliederung nicht Hesses unmittelbare Absicht, wenn er erwägt, das Vorwort wegzulassen. Aus der Dreigliedrigkeit des Einleitungsteils ergibt sich ohne Vorwort eine Zweiteilung in Traktat und Beginn des Handlungsverlaufs, und man kann, rechnet man das magische Theater zum Hauptteil, den gesamten Roman als zweigliedrig strukturiert beschreiben, bestehend aus Einleitungsteil, die ihrerseits aus "dem Anfang des eigentlichen Buches" und dem Traktat bestünde, und Hauptteil mit dem gesamten Handlungsverlauf und dem magischen Theater als Teilabschnitten, womit wir eher bei der musikalischen Form der kontrapunktischen Fuge wären. Hesse selber ist sich nicht schlüssig, ob er den Roman mit einer Sonate oder mit einer Fuge vergleichen soll: "Was bisher niemand gesehen hat, auch kein Kritiker, ist die Form der Dichtung, die keineswegs (wie viele meinen) fragmentarisch ist, sondern wie eine Sonate oder Fuge proportional gebaut." Noch verwirrlicher werden die musiktheoretischen Vergleiche und Analogien, wenn man bedenkt, dass Fugen Bestandteile von Sonaten sein können...

Soviel zur Skizze einer alternativen Romansegmentierung. Jede Segmentierung von Texten ist letztlich eine Gewichtung von Textabschnitten, und es hängt vom Interpreten ab, welchen Abschnitt er wie stark gewichten, und mit welchen anderen er ihn verknüpfen will. Kehren wir zum Steppenwolf-Manuskript zurück:
 

Hallers Aufzeichnungen (Fortsetzung)

Ein Folio-Einlageblatt, das ursprünglich den Traktat enthalten hat, trennt den Traktat von der Fortsetzung der eigentliche Handlung ab, die mit der Paginierung (Seite 40) unmittelbar an den vorausgehenden ersten Teil der Aufzeichnungen anschliesst. Mit spärlichen handschriftlichen Änderungen, meist Korrekturen, weist der Textstand des Manuskripts keine nennenswerten Abweichungen von der publizierten Fassung auf, wie eine stichprobenweise Überprüfung der beiden Versionen ergeben hat. Wie bereits erwähnt, ändert in der Mitte der Seite 65 die Schreibmaschinentype.

Nach der Seite 67 ist ein Zeitungsausschnitt eingeschoben, der den Titel Traum von einer Audienz bei Goethe. Aus einem unvollendeten Roman. Von Hermann Hesse trägt. Die folgende Manuskriptseite ist lediglich zu zwei Dritteln beschrieben und endet mit der Formulierung "Mir träumte:" offensichtlich mit einem Verweis auf den beiliegenden Zeitungsausschnitt, der für die Buchausgabe hier einzufügen sei. Im Manuskript überspringt die Paginierung zwei Seiten, und das nächste Blatt, das an den Traum unmittelbar anschliesst, trägt die Seitenzahl 71.

Der Zeitungsausschnitt ist ein Datierungshinweis: Nach Mileck entstammt der Ausschnitt der Frankfurter Zeitung vom 12. September 1926. Es muss ein vorhergehender Textzeuge existieren oder existiert haben, der als Vorlage für die Traumszene in der Zeitung gedient hat. Im Zürcher Typoskript ist anstelle des Zeitungsausschnitts ein Textabschnitt in kursiver Schrift (Durchschlag) mit dem Goethetraum in den Text hineincollagiert. Dieser Textabschnitt muss also vor der Ausarbeitung der Prosafassung des Steppenwolf entstanden sein. Für die Entstehung des Romans heisst dies, dass Hesse neben den beiden Gedichten auch andere, früher entstandene Texte in den Wortlaut des Romans integriert.

Auf der Manuskripseite 123 fehlt das Gedicht Die Unsterblichen, die vorhergehende Seite endet mit den Worten "... schrieb Verse, die ich erst andern Tags in meiner Tasche wiederfand. Sie lauteten:" Die obere Hälfte der Seite 123 ist nicht beschrieben, wie um zu markieren, dass hier etwas einzufügen sei.[14]
 

Schluss

Worin liegt nun die Bedeutung der Kenntnis der Textgenese und namentlich der Untersuchungen am Manuskriptmaterial?

Einmal ergibt eine solche Analyse Auskunft über die Arbeitsweise des Autors. Anders als bei anderen Schriftstellern präsentiert sich die Textgenese des Steppenwolf-Romans relativ einfach: Nach einem handschriftlichen Entwurf beginnt Hesse mit der Reinschrift, von der er verschiedene Durchschläge erstellt, zwei davon sind erhalten. Reinschrift und Durchschläge werden noch einmal überarbeitet, Hesse korrigiert einzelne Tippfehler und nimmt (meist) kleine Änderungen vor. Einer der Durchschläge dient als Druckvorlage, geringfügige Abweichungen zwischen der Vorlage und der Erstausgabe legen die Vermutung nahe, dass Hesse in den nicht erhaltenen Druckfahnen noch weitere Änderungen vorgenommen hat.

Um einiges komplexer erscheint die Entstehungsgeschichte[15] des Textes: Ich habe mich im vorliegenden Aufsatz auf die Beziehung des Romans zu den Gedichten des Krisis-Zyklus beschränkt. Wir haben feststellen können, dass Hesse die Gedichte in die Prosafassung transformiert, indem er die subjektiven Stimmungsbeschreibungen der Gedichte als charakteristische Wesensmerkmale Harry Hallers in den Roman übernimmt und vor allem im ersten Teil zur Illustration der Figur wiederverwendet. Ebenso übernimmt er aus den Gedichten einzelne Situationsdarstellungen wie den missglückten Abend und den Maskenball und integriert diese als Handlungsabschnitte im Roman. Dass der Roman gegenüber den Gedichten eine ‘Dimension’ mehr aufweist, lässt sich an Hesses philosophisch und psychoanalytisch motivierten Zeitkritik zeigen, die im Roman als ein neues Element auftaucht. Dass diese neue Dimension Ergebnis des Werkprozesses, der Umarbeitung der Gedichte in die Romanform ist, kann im Manuskript an der nachträglichen Veränderung des Herausgebervorworts abgelesen werden. Die Entstehungsgeschichte des Steppenwolf lässt sich als eine Zickzack-Linie von den Gedichten hin zum Roman und wieder zurück zur nachträglichen Publikation der vorgängig entstandenen Gedichte beschreiben.

Unser Blick in die Manuskripte hat verdeutlicht, dass Hesse neben den Gedichten auch frühere Prosaschriften im Roman integriert, so ist der Traum von einer Audienz bei Goethe schon vor der Niederschrift des Steppenwolf entstanden, die anderen  Texte aus dem Kontext wie etwa Kurgast musste ich dabei aus Raumgründen ausser acht lassen. Dass gerade zu diesem Text eine nahe Beziehung besteht, zeigt sich ebenfalls im Manuskript: Einzelne Blätter sowohl des Zürcher wie auch des Berner Steppenwolf-Typoskripts stehen auf der Rückseite von verworfenen und durchgestrichenen Typoskript-Seiten aus dem Kurgast.

Schliesslich kann die Kenntnis der Entstehungsgeschichte die Rezeptionsformen und Interpretationsansätze der Leser und Leserinnen verändern: Hesses Zögern, das Vorwort in die Edition aufzunehmen, hat uns veranlasst, die Struktur des Romans noch einmal zu überdenken, sie lässt bisherige Segmentierungen zumindest in einem neuen Licht erscheinen, alternative Beschreibungen der Form und Struktur des Werks werden denkbar.

 

Rudolf Probst
 

Anmerkungen

1) Vgl. Hans Mayer: Hermann Hesses "Steppenwolf" von 1962, wiederabgedruckt in Volker Michels (Hrsg.): Materialien zu Hermann Hesses "Steppenwolf", Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1972. Der Band enthält neben Sekundärliteratur und Dokumenten zur Rezeptionsgeschichte auch reichhaltiges genetisches Material wie Texte aus dem Umfeld des Steppenwolf und Briefe Hesses. Die vorliegende Untersuchung beruht zu einem weiten Teil auf diesen Materialien, die im folgende als Mat. zitiert werden. Zitate aus dem Steppenwolf erfolgen nach der Taschenbuchausgabe: Hermann Hesse: Der Steppenwolf. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976 (st 175). Zudem wird verwendet: Hermann Hesse: Die Gedichte. Hrsg. von Volker Michels. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1992 (Ged.) Das einleitende Zitat findet sich auf S. 254.

2) Peter Spycher: Eine Wanderung durch Hesses Lyrik. Dokumentationen und Interpretationen, Bern u.a.: Lang 1990.

3) Spycher, a.a.O. S.281.

4) In meiner Interpretation des Traktats als Hesses philosophische uns psychologische Analyse der Individuationsproblematik folge ich Beda Allemann: Tractat vom Steppenwolf von 1961, in Mat., S. 317-324 gegen Theodore Ziolkowski, der meint, der Traktat sei aus der Perspektive der Unsterblichen geschrieben.

5) Hermine ist nicht einfach bloss eine Dirne, deren banale Worte Haller auf einer anderen Realitätsebene als kluge Diagnose seines eigenen Zustands missversteht, wie Ziolkowski (Mat., S. 364) vermutet, sondern eine Art Spiegel für Haller, in welchem seine Wesenszüge wie auch seine Mängel reflektiert werden, ein Ansatz zum Prinzip, verschiedener Aspekte einer Person mit Hilfe mehrerer Figuren darzustellen, ein ästhetisches Prinzip, das Hesse im 'magischen Theater' vorführt und in Narziss und Goldmund weiterentwickeln wird.

6) Joseph Mileck: Hermann Hesse. Biography and Bibliography. Berkeley u.a.: University of California Press, 1977. S. 1048 und S. 1093.
Der Begriff "Manuskript" wird im vorliegenden Aufsatz wie in den meisten textologischen Untersuchungen in zwei Bedeutungen verwendet: Erstens als Oberbegriff für alle Arten von Textzeugen, Unikate aus der Hand des Autors, und zweitens im engeren Sinne als eigentliche Handschrift.

7) Das Typoskript trägt die SLA-Signatur Ms Lq 504.

8) Gemäss textologischen Gepflogenheiten wird hier zwischen Korrekturen im strengeren Sinne von orthographischen oder grammatikalischen Verbesserungen und Änderungen im weiteren als Textveränderungen unterschieden. Der Begriff Änderungen umfasst sämtliche möglichen Veränderungen im Text wie Streichungen, Ergänzungen, Umstellungen und Ersetzungen.

9) Diesen Hinweis verdanke ich Volker Michels: "Die Schreibmaschine mit der Kursivschrift, seine ‘alte Lokomotive’, die Hesse sich 1908 (bereits antiquarisch) in Konstanz zugelegt hatte, stand seit 1919 in Montagnola; die mit den geraden Buchstaben im Winterquartier im Zürcher Schanzengraben, wo auch das Typoskript des "Steppenwolf", also die Satzvorlage für den Verlag fertiggestellt wurde." (In einem Brief vom 28. März 1997)

10) Im Manuskript S.8 "Geschichtsphilosoph und Zeitkritiker" statt "Kulturkritiker"; S.10 "sehr frommen, pietistisch frommen Eltern" statt "sehr frommen Eltern"; S. 12 "Papierzeichen, die beständig wechselten." Relativsatz im Typoskript gestrichen; S. 15 "und darum sitze ich hie und da hier" statt "da sitze ich hie und da".

11) Die Kürzungen (in runden Klammern) betreffen folgende Stellen: Im Manuskript S.26 "... Schlafengehen. (Alle diese einfachen, guten Dinge sind hier heimisch, die ich anerkennen und bewundern muss und dennoch hassen und bespötteln: Zucht, Ordnung, Hygiene, Vernunft, Sparsamkeit.
Am grünen Tempelbaum vorüber brachte ich mich, mit wieder beginnenden Schmerzen in den Beinen, vollends die Treppe
hinab.) Mit gespielter Munterkeit..."
S. 36 "... eine naive redliche Sinnlichkeit (, und hatte, ebenso wie der moderne Tanz, den Harry zwar gegen sich, dafür aber desto mehr den Steppenwolf für sich. Es musste ein grosses Glück sein, diesen unkomplizierten und etwas brutalen Tänzen, dieser wilden und geilen Musik sich skrupellos überlassen, sie unschuldig, dumm und lustig geniessen zu können [,] wie es alle die Tausende und Millionen taten, die Abend für Abend diese Lokale füllten.) Ich stand einen Augenblick schnuppernd..."
Beide Textstellen bringen Hallers zwiespältige Attitüde gegenüber einerseits den bürgerlichen Tugenden (im ersten Zitat), und andererseits gegenüber der modernen Tanzmusik (im zweiten Zitat) zum Ausdruck, der zwiespältigen Haltung also, die, wie im Traktat ausgeführt wird, auf Hallers Selbstinterpretation als in die Teile des Steppenwolfs und des Kulturmenschen Harry aufgespaltenes Wesen beruht. Ein Grund für die Streichung der beiden Stellen mag darin liegen, dass den Lesenden diese Zwiespältigkeit in Hallers Persönlichkeit vor dem Traktat noch nicht recht verständlich sein kann. Die Streichung nimmt Hesse wahrscheinlich erst in den Fahnen vor, im Zürcher Typoskript finden sich ebenfalls keine Anzeichen für eine Streichung.

12) Die handschriftlichen Änderungen im Traktat betreffen weitgehend die Korrektur von Tippfehlern; einzige inhaltliche Veränderung ist auch hier die Umwandlung von "anarchistischer Abendunterhaltung" in "magisches Theater". Im Manuskript folgt auf den Traktat ein zusammengefaltetes Folioblatt mit der handschriftlichen Aufschrift "Traktat vom Steppenwolf", das wahrscheinlich dazu diente, die 30 Blätter des Traktats als gesonderte Einheit zu umfassen.

13) Der Abschnitt "Hochjagd auf Automobile" fehlt im Berner Typoskript (die unter Hälfte der Seite 144 bis Mitte S. 154); an ihrer Stelle steht eine handschriftliche Notiz von Hesse: "Hochjagd auf Automobile ist der Frankfurter Zeitung gesandt", später ist der Name der Zeitung durchgestrichen und durch "Münchner Neuesten" ersetzt worden. Die Notiz befindet sich auf der Rückseite eines Briefs vom S. Fischer Verlag, Berlin, der vom 23. Februar 1923 datiert. Im Zürcher Typoskript schliesst der Abschnitt der "Hochjagd" direkt am Text an. Hesse hat offenbar den Abschnitt aus seiner Version herausgeschnitten und den Zeitungen zur Publikation zugestellt. Als nächste Seite im Manuskript folgt die handschriftlich paginierte Seite 154, ebenfalls im Oktav-Querformat, die die handschriftlich umrahmten Inschriften des magischen Theaters enthält.

14) Das Gedicht Die Unsterblichen fehlt auch im Marbacher Steppenwolfmanuskript. Im Zürcher Typoskript ist an der betreffenden Stelle der Manuskriptseite 123 ein Zeitungsausschnitt mit einem Abdruck des Gedichts aufgeklebt.

15) Zu unterscheiden sind einerseits die Entstehungsgeschichte, die literarische und biographische Voraussetzungen für den Text abklärt, und andrerseits die eigentliche Textgenese, die die immanente Textentwicklung von den ersten Entwürfen bis zur Erstpublikation und (allenfalls) darüber hinaus beschreibt.

 
 



 
Reprinted on 11/12/97 with the kind permission of the author Rudolf Probst
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