© Christine Mondon, 1997
(c) HHP 9/4/97
Christine MONDON
 Universität Le Havre, Frankreich
 
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A lecture held at the 9th International Hesse Colloquium in Calw - May 1997

 

 Hesses Märchen und der Einfluß der Psychoanalyse
Hesse lernte die Psychoanalyse in den Jahren des ersten Weltkrieges kennen, d.h. eben während der von diesem Krieg verursachten Seelenkrise. 1916 war Hesses seelischer Zustand so angegriffen, daß er sich einer psychoanalytischen Therapie bei C.G. Jungs Schüler, Dr. Joseph Bernhard Lang, unterziehen mußte. Schon nach zwölf Behandlungen hatte sich sein Gesundheitszustand gebessert, aber er suchte Dr. Lang bis Oktober 1917 regelmäßig auf. Auch später wird er sich oft um Rat und Hilfe an Dr. Lang wenden. Zu dieser Zeit lernt er die Schriften der führenden Analytiker kennen (Freud, Bleuler, Stekel), und besonders die C.G. Jungs, von dem er sich von Zeit zu Zeit behandeln ließ.

Von Anfang an wurde die Psychoanalyse, die damals noch als etwas sehr Außergewöhliches galt, für Hesse eine Art Offenbarung. Er war von der therapeutischen Wirksamkeit fest überzeugt und sah darin ein höchst wirkungsvolles Mittel, mit inneren Seelenkonflikten und -leiden fertig zu werden. Später schrieb er, auf seine eigene Entwicklung zurückblickend:

Hesse betrachtete die Psychoanalyse nicht nur als tatsächliche therapeutische Methode und als Mittel zur Erkenntnis der Mechanismen des Seelenlebens, er war ihr auch als Künstler tief verpflichtet. 1920 notiert er: Die ersten Früchte seiner Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse findet man in Demian und in den Märchen, die zum größten Teil in den Jahren 1913 bis 1917 geschrieben wurden und in dem Band Märchen (1919) gesammelt sind. Das Märchen, das zur Gattung des romantischen Kunstmärchens3 gehört, ist hier als symbolische Reise in die unbewußten Tiefen der eigenen Seele zu verstehen. Es wäre aber grundsätzlich falsch, zu behaupten, Hesse hätte bestimmte Schemata der Psychoanalyse unvermittelt in seine Märchen übernommen. Als Künstler war er sich dessen bewußt, daß wissenschaftliche Psychologie und künstlerische Darstellung des Seelenlebens nicht ein-und dasselbe sind. Doch diente ihm die Psychoanalyse als eine wichtige Hilfe und Stütze, wie er es in seinem Aufsatz Künstler und Psychoanalyse (1918) erklärte: Die Märchen drücken unbewußte Inhalte aus und zeichnen sich durch ihre psychoanalytische Symbolik aus. In ihnen werden der Prozeß der Selbstwerdung und insbesondere die Muttersuche veranschaulicht.

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 1. Die Märchen als Ausdruck unbewußter Inhalte
Die einzige sich in die Abgründe des Unterbewußtseins öffnende Tür ist in den Märchen der Traum, d.h. gerade jener psychische Zustand, in dem die Zensur des Über-Ich sich lockert, in dem Triebe, unbewußte Gedanken sowie Wünsche auftauchen und dadurch phantastische Bilder oder Figuren schaffen. Schon das romantische Kunstmärchen, das das Unterbewußtsein auslotete und ihm künstlerischen Ausdruck verlieh, wies eine große Verwandtschaft mit der Psychologie auf. Den Romantikern galt ja das Märchen als Beschwörung dunkler und unbewußter Instinkte und Kräfte5. Novalis schreibt: "Alle Märchen sind nur Träume von jener heimatlichen Welt, die überall und nirgends ist"6. An anderer Stelle betont der romantische Dichter: "Ein Märchen ist eigentlich wie ein Traumbild - ohne Zusammenhang -. Ein Ensemble wunderbarer Dinge und Begebenheiten7." In diesem Sinn entspringen Hesses Märchen der Romantik. Aber seine Märchen beanspruchen eine wahre Originalität, gerade weil das Unbewußte nicht nur spontan zum Ausdruck kommt, wie in dem romantischen Kunstmärchen, sondern zur bestimmten Intention des Autors geworden ist.

Schon der Titel einiger Märchen läßt uns den Bereich des Traums betreten. In Flötentraum wird eine Schiffsreise auf dem dunklen Fluß des Unbewußten beschrieben. Je weiter der Held in die Tiefen der eigenen Psyche hinabsteigt, desto dunkler wird die Szene (es ist Nacht). Die Nacht wird wie bei Novalis zum Ort der Selbsterkenntnis: "Das war ich"8, behauptet der Held in Flötentraum, der sein eigener Steuermann geworden ist. In einem übertragenen Sinne symbolisiert dieses Bild die Fähigkeit, sich in seinem eigenen Ich orientieren zu können. In Eine Traumfolge erzählt der Dichter einen Traum in der Form eines Märchens, das einzig mittels der Psychoanalyse zu verstehen ist. Eine alogische Folge von Bildern wirkt wie ein Versuch, das Unbewußte unmittelbar zu beschwören. Man wird hier sowohl an expressionistische Kunstwerke auf dem Gebiet der Malerei (Picasso) oder der Musik (Strawinskij) als auch an psychoanalytische Behandlungen erinnert. Träume individueller Natur werden in diesem Märchen aufgezeichnet:

"Gutes, inniges Dunkel, warme Seelenwiege und verlorne Heimat tut sich auf, Zeit des ungestalteten Daseins, unentschlossene erste Wallung überm Quellgrund, unter dem die Ahnenvorzeit mit den Urwaldträumen schläft. Taste nur Seele, irre nur, wühle blind im satten Bad schuldloser Dämmertriebe".9
 In dem Helden vollzieht sich eine Wandlung, die ihn immer tiefer ins eigene Ich führt. Er sieht einen Sarg, der den Tod seines früheren Ichs und das Erwachen zu einem neuen Leben versinnbildlicht. Trotz der Dunkelheit sind "die Bilder um ihn her von einer ergreifend beredten Deutlichkeit, viel deutlicher, als jede Deutlichkeit sonst ist10". An einer anderen Stelle wird geschrieben:
"Wieder stellte aus dem trüben Höllenqualme Bildlichkeit sich her, wieder lag ein kleines Stück des finsteren Pfades vom gestaltenden Licht der Erinnerung beschienen [...]11."
 Das Widerspiel von Finsternis und Licht, von Verschwommenheit und Deutlichkeit beschreibt die Arbeit am Unbewußten: die Finsternis versinnbildlicht die in das Unbewußte verdrängten Inhalte und das Licht die "Aufhellung", das Bewußtmachen der "dunklen Seite" der Psyche. Der Traum dient nicht nur der Erfahrung der eigenen Identität, sondern auch der Entdeckung der Kollektivpsyche:
 "Wir sind die Welt. Wir töten und sterben mit, wir schaffen und auferstehen mit unsern Träumen12."
 Man wird hier an C.G. Jungs Theorie des kollektiven Unbewußten erinnert. Jung zufolge beruht die ganze Welt auf einem Urgrund und steht im Einklang mit der psychischen Substanz des Menschen. Das Märchen ist gerade für Jung13 das beste Mittel, um die Archetypen, den Inhalt des Unbewußten, zu veranschaulichen.

Selbst wenn der Titel Iris14 nicht auf einen Traum verweist, gleichen die Bilder Traumvisionen. Der Kritiker Jens Tismar beschreibt dieses Märchen als den Versuch, "Novalis' Märchen Hyazinth und Rosenblütchen mit der Kenntnis der Tiefenpsychologie neu zu erzählen"15. Gleich am Anfang träumt der junge Anselm von einer blauen Schwertlilie, die Erinnerungen an Novalis' blaue Blume und an Hoffmanns Feuerlilie in Der goldene Topf erweckt. Wie Heinrich von Ofterdingen schlägt der kleine Anselm den Weg nach innen ein, d.h. er unternimmt eine Reise in das Herz der Blume, in den fernen Abgrund und die unerreichbaren Tiefen der Irisblüte, in die blaue Welt des Unterbewußten. Der Traum offenbart dem Helden eine höhere Wirklichkeit:

"Wenn er in ihren Kelch blickte und versunken diesem hellen träumerischen Pfad mit seinen Gedanken folgte, zwischen den gelben wunderlichen Gestäuden dem verdämmernden Blumeninnern entgegen, dann blickte seine Seele in das Tor, wo die Erscheinung zum Rätsel und das Sehen zum Ahnen wird16".
Indem er sich in die Blume versenkt, kann er die Geliebte, Iris, entdecken, aber vor allem das Unbewußte wiederentdecken, in dem jede Erwartung sich erfüllt und jede Ahnung zur Wahrheit wird:
"Jede Erscheinung auf Erden ist ein Gleichnis, und jedes Gleichnis ist ein offnes Tor, durch welches die Seele, wenn sie bereit ist, in das Innere der Welt zu gehen vermag, wo du und ich und Tag und Nacht alle eines sind. Jedem Menschen tritt hier und dort in seinem Leben das geöffnete Tor in den Weg, jeden fliegt irgendeinmal der Gedanke an, daß alles Sichtbare ein Gleichnis sei, und daß hinter dem Gleichnis der Geist und das ewige Leben wohne. Wenige freilich gehen durch das Tor und geben den schönen Schein dahin für die geahnte Wirklichkeit des Innern17."
In diesem Zitat wird wiederum Jungs Theorie des kollektiven Unbewußten anschaulich gemacht. Das Geheimnis der Blume führt ins Geheimnis der Welt und vereint das Ich mit der ganzen Welt. Aber Anselms Weg nach innen bedeutet nicht wie im Fragment des zweiten "Ofterdingen"-Teils die Berufung des Dichters und die Heraufbeschwörung des Goldenen Zeitalters. Er führt nicht zum "transzendentalen Selbst", d.h, zur Forderung einer neuen Mythologie, sondern in die Immanenz des Unbewußten, die im Sinne der Psychologie erhellt wird: die zu sich selbst befreite erlöste Seele.
 
2. Die psychoanalytische Symbolik
Hesses Märchen kennzeichnen sich durch die Verbindung der psychoanalytischen und dichterischen Bilder.

 a) Der Vogel:

Häufig begegnet man in den Märchen dem Bild des Vogels. Vermutlich wurde Hesse von der Theorie C.G. Jungs beeinflußt, der in Symbole der Wandlung den Vogel als das Zeichen des Todes und der Auferstehung, d.h. als den Prozeß der Selbstwerdung bezeichnet:

"Die Vögel sind Abbilder der Seele [...]. Engel sind eigentlich Vögel [...]. Mit der Hilfe eines Vogels sieht der Held noch einmal das Tageslicht. Der Vogel bedeutet wahrscheinlich den erneuerten Aufstieg der Sonne, die Neugeburt des Phönix, und er ist zugleich eines jener "hilfreichen Tiere", die während der Geburt übernatürlichen Beistand leisten. Die Vögel als Wesen der Luft symbolisieren Geister oder Engel18."
Der "schwarze Vogel" im Märchen Der schwere Weg (1916) singt ein Lied, das Ewigkeit heißt und in dem Helden Angst erweckt. Der Junge kann die Einsamkeit des Ortes nicht ertragen, weil er noch nicht zu einem wissenden Individuum herangereift ist. Erst der Anflug des Vogels bewirkt die Metamorphose des Helden, der sein Schicksal beherrscht. Der Vogel, dessen Auge mit einem Kristall verglichen wird, hat die Bedeutung eines Identitätsfaktors. Im Märchen Piktors Verwandlungen, das durch seine Unmittelbarkeit an ein Volksmärchen19 erinnert, wird wiederum der Vogel mit dem Kristall assoziiert. Der Vogel verwandelt sich in eine Blume, in einen Schmetterling und schließlich in einen Kristall:
"Ein Vogel kam geflogen, ein Vogel rot und grün, ein Vogel schön und kühn kam geflogen, im Bogen kam er gezogen. Das Mädchen sah ihn fliegen, sah aus seinem Schnabel etwas niederfallen, das leuchtete rot wie Blut, rot wie Glut, es fiel ins grüne Kraut und leuchtete im grünen Kraut so tief vertraut, sein rotes Leuchten warb so laut, daß das Mädchen sich niederbückte und das Rote erhob. Da war es ein Kristall [...]20."
Der Vogel verhilft dem Helden zur Selbsterkenntnis: Piktor, als Baum zuerst glücklich, erlebt eine Metamorphose, als er von der Sehnsucht nach Liebe und Synthese ergriffen wird. Durch den Zauberkristall bringt der Vogel die Erlösung, indem er Piktor mit der Geliebten vereinigt. In Iris symbolisiert auch der Vogel, der "wie die Stimme der gestorbenen Iris21" sang, die geistige Vereinigung mit der Geliebten. Ihm fehlen aber wunderbare Elemente wie in Piktors Verwandlungen. Desweiteren hebt der Vogel den Aufstieg Anselms zur wahren Identität hervor: die Suche nach Iris schließt in der Tat die Selbsterkenntnis mit ein:
"In seiner Brust sang der Vogel hell, und Anselm schritt an dem Wächter vorüber in den Spalt und durch die goldenen Säulen hin ins blaue Geheimnis des Innern."22
 b) Der Berg:

Zum Symbol des Vogels tritt das des Berges hinzu. Wir erinnern uns daran, daß Jung den Berg als den Aufstieg zu einer höheren Stufe des Ichs darstellte. In Aion. Beiträge zur Symbolik des Selbst bedeutet nämlich der Berg Aufstieg, insbesondere den geistigen Aufstieg zum Gipfel, d.h. zur Geistesnähe. Der Berg wird in den hesseschen Märchen bald als ein Reiseziel beschrieben, wie z. B. in Der Dichter, wo Han Fook die nordwestlichen Berge als Reiseziel wählt. Bald erscheint er als ein zu überwindendes Hindernis, wie in Der schwere Weg, wo der Junge einen Berg erklimmen muß, oder auch in Iris, wo Anselm einen steilen Felsenspalt im Berg vor sich sieht, der ihm seinen Weg weist. In all diesen Fällen ist der Berg mit dem Erreichen des Selbst verbunden: er versinnbildlicht den Versuch, die Realität der unbewußten Elemente zu erkennen und ein Gleichgewicht zwischen den entgegengesetzten Sphären des Ich herzustellen. Hesse wird auch hier von der Theorie C.G. Jungs angeregt, der den Berg als das Selbst betrachtet: "Das Größe und Auffragende des Berges deutet die erwachsene Persönlichkeit an"23, schreibt er in dem Werk Zur Phänomenologie des Geistes im Märchen.

Der Schlußabschnitt des Märchens Faldum ist selbst Der Berg betitelt. Ein junger Mann hat sich in einen Berg verwandelt, der über der Stadt emporragt. Der Berg widersteht der Zeit, bis auch er eines Tages zerfällt:

"Der Berg erbebte, als er fühlte, was vergehen sei; und als er erbebte, sank sein Gipfel zur Seite und stürtzte hinab [...]. Wenn er der Menschen gedachte, so schmerzte ihn ein dumpfer Anklang aus vergangenen Weltaltern, [...] ein dunkler, schwebender Traum, als wäre einst auch er ein Mensch oder den Menschen ähnlich gewesen [...]24."
Nun hängt der sterbende Berg seinen Träumen nach und wühlt in seinen Erinnerungen, als er noch ein Mensch war. Plötzlich äußert er den Wunsch, die Qualen der Individuation, die er als Mensch damals erfuhr, im kosmischen Bereich zu überwinden. Im Bilde des Berges wird die notwendige Einkehr in sich selbst und in das Unbewußte zum Ausdruck gebracht.

 c) Der Führende:

Die führende Gestalt in Hesses Märchen ist ebenso reich an Symbolik. Geglückte Selbsterkenntnis kann sich nur mit Hilfe eines Führenden vollziehen. In Flötentraum verläßt der Knabe seine Heimat und wird auf seiner Seereise von einem geheimnisvollen Schiffer begleitet, der Lotse und Psychoanalytiker in einem ist. Wie Demian verschwindet auch der Steuermann-Führer: er überläßt es dem Helden, seinen Weg zu finden und zur Selbsterkenntnis zu gelangen. In Der schwere Weg tritt auch der Führende auf, der als Psychoanalytiker wirkt. Dem "ich will" des Führenden setzt sich das "ich muß" des Knaben entgegen, der umkehren möchte. Aber der Wille des Steuermanns setzt sich durch, und der Junge ist gezwungen, in das "ich will" des Führenden einzustimmen. Von da an wird der Weg leichter, die Sonne bricht durch, und das Besteigen des Berges gleicht einer psychoanalytischen "Offenbarung":

"Da wurde es heller in mir [...] Sonne drang in meine geblendeten Augen, [...] denn ich sah mich frei und ohne Halt [...]25."
Wie in Flötentraum verschwindet die führende Gestalt, sobald der Junge sich selbst entdeckt hat.

In einigen Märchen wird der Führende von der Vater-Gestalt vertreten, die das Schicksal des Helden steuert. In Iris rät der Wächter Anselm davon ab, in das Felsentor des Berges zu dringen: "Zurück, du Mann zurück! Das ist das Geistertor. Es ist noch keiner wiedergekommen, der da hineingegangen ist26." Auch in Augustus rettet Herr Binßwanger, der wie ein Magier aussieht, den Helden vor dem Tod, indem er das wirkungslose Gift trinkt und damit andeutet, daß er einer höheren Welt angehört. Wie in den traditionellen Märchen ist die Figur des Alten eine warnende Gestalt, insofern sie dem Helden vor einer Gefahr behütet und ihm zur Selbsterkenntnis verhilft.

3. Der Prozeß der Selbstwerdung:
Der Weg zum Selbst zerfällt in den Märchen (Flötentraum, Der schwere Weg, Iris) meist in drei Phasen: Harmonie/Unschuld-Zerrissenheit/Irren-höhere Bewußtseinsstufe. Dieser Weg ist aber voller Gefahren und Hindernisse: "Wütend wartete mein lahmer Schritt in der zähen Luft, Pflanzenranken wie dünne starke Seile umschlangen mich mehr und mehr, feindselige Hemmnis überall [...]27, bemerkt der Held der Traumfolge, der sich nach der Welt der Kindheit sehnt. Sobald man diesen Weg eingeschlagen hat, gibt es kein Zurück. Sich seiner jugendlichen Unschuld erinnernd, sagt der Held in Augustus : "Ich kann nicht wünschen, wieder ein Kind zu sein28." Es ist nämlich nicht möglich, die unschuldige Welt der Kindheit wiederzufinden, was auch der Held des Märchens Flötentraum feststellt: "Zurück geht kein Weg, man muß immer vorwärtsgehen, wenn man die Welt ergründen will.29" Die Welt ergründen bedeutet das Selbst entdecken, aber dafür muß der Held viele Prüfungen bestehen.

Die Suche nach dem Selbst ist oft mit der Suche nach der Mutter verbunden. Die Gestalt der Mutter ist eine der wichtigsten in Freuds Lehre (Ödipuskomplex). Die wichtigste Aufgabe der Psychotherapie ist ja, das vergessene Mutterbild aus den Fängen des Über-Ich zu befreien. In Die Traumfolge haften dem Verlangen des Helden nach der Mutter ödipale Komplexe an. Der Held versucht, sich der Stimme und des Gesichtes der Mutter zu entsinnen:

"Mutter! rief ich - aber es gab keinen Ton... Es klang nicht. Es war Glas zwischen ihr und mir30."
Die Mutter bleibt unsichtbar, unerreichbar, geheimnisvoll, weil der Junge die Welt der Kindheit verlassen hat und zum Erwachsenen geworden ist:
"Umschnürt und gefesselt stand ich am Tor, und drüben ging die Frau im grauen Kleide langsam hinweg, in den Garten, und war fort31."
Erst die Erinnerung an die Mutter heilt den Helden von seinen inneren Konflikten. Hier entdeckt man den psychoanalytischen Charakter des Märchens, das das vernachlässigte Mutterbild aus dem Unterbewußten des Protagonisten befreit.

Es wäre aber falsch, die Märchen ausschließlich mit dem Freudschen Mutterbegriff zu interpretieren. Das Bild der Mutter reicht oft über die Sphäre der individuellen Psyche hinaus und wird zum mythisch mütterlichen Urgrund, zur Magna Mater Jungs, der großen Erdenmutter, die aus dunklen und hellen, bewußten und unbewußten Elementen besteht, die zugleich Eros und Thanatos ist. C.G. Jung analysierte in seinem Werk Symbole der Wandlung32 das Märchen Flötentraum als die Suche des Helden nach der ewigen Mutter. Dies wird auch in Der schwere Weg anschaulich gemacht, wo der Held an die Brust der Mutter fliegt, und besonders in Iris, wo die Welt des Unfaßbaren, der Urmächte, all das, was die Irisblüte - als Archetypus der Mutter - in ihrem Kelch birgt, sowohl Leben und Liebe als auch Zerstörung und Tod verkörpert. Am Ende des Märchens erfährt man aber auch, wie zwiespältig die Muttersuche ist:

"Leise fing Anselm an zu singen, und sein Pfad sank leise abwärts in die Heimat33."
Bei Novalis' Hyazinth und Rosenblütchen sinkt das Märchen ins Bürgerliche ab: die Figuren finden ihr Glück im idyllischen Familienleben. Ganz umgekehrt bei Hesse: Iris ist tot, und man könnte auch vermuten, Anselm habe den Tod gewählt ("abwärts", "Heimat"). Meiner Ansicht nach symbolisiert das Ende von Iris die Einswerdung mit der anima, dem Archetypus des Weiblichen, der die Mutter und die Geliebte, das Reich der Kindheit und das Reich des Eros umfaßt. Somit wird Sinclairs Suche nach Eva-Mutter vorweggenommen. Das Märchen Iris erscheint also als ein Versuch Hesses, seine private Krise zu lösen (die Krise mit seiner Frau Maria), indem er dem Problem der Mutterbindung psychoanalytisch nachgeht. Darin besteht seine Originalität.
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Mit der Hilfe der Psychoanalyse beginnt eine neue bildhafte Sprache in das Werk Hesses einzudringen. Er wendet sich immer mehr seelischen Vorgängen zu und die Produkte dieser neuen Schreibkunst sind die Märchen und Demian.

Neben den romantischen Bezügen zeigen die Märchen deutliche Spuren der analytischen Psychologie. Der "Weg nach innen" im Sinne von Novalis zielt auf Ich- und Weltumwandlung. Bei Hesse führt die Reise in das Unbewußte zu vorwiegend tiefenpsychologisch erklärbaren Selbsterfahrungen und Selbsterkenntnissen. Wie es der Kritiker Tismar bemerkt, besteht die Tendenz der Märchen darin, "der Geschichte des Ichs34" Sinn zu geben, weil jene nichts als "psychologische Gesetzmäßigkeiten35" (V. Michels) versinnbildlichen. Wie Tismar kann man ihnen die Funktion zuweisen, als "Heilmittel"36 zu wirken, die sowohl individuelle Krisen (Der schwere Weg, Iris) als auch allgemeine Krisen (Merkwürdige Nachricht von einem andern Stern) zu kurieren versuchen.

Das Selbst, das aus dem prekären Gleichgewicht zwischen Bewußtem und Unbewußtem besteht, bleibt aber (und nicht nur in den Märchen) mehr Ideal als Wirklichkeit, denn es ist ein unendlicher Prozeß, stets nur als Tendenz, als Fortbewegung anwesend. Deshalb kann es nur im Bild, im Symbol ausgedrückt werden, und die Märchen sind damit die adäquateste Form, um dieses ideale Endziel zu veranschaulichen.

Das Thema der Innerlichkeit, die psychoanalytische Durchdringung des Unbewußten, die Suche nach dem Selbst, die den Märchen gemeinsam sind, zeigen die Grundtendenz der künftigen Werke Hesses. Das magische Theater im Steppenwolf verbindet märchenhafte Züge mit psychoanalytischen Elementen; der Roman Narziß und Goldmund liest sich wie ein Märchen, in dem tiefenpsychologische Motive des Iris-Märchens nachklingen. Die Märchen sind also der hermeneutische Schlüssel zu Hesses späteren Werken und zu seiner Persönlichkeit.

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Anmerkungen:
 
1 Gesammelte Werke, (GW), X, Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1970, S. 280.

2 Gesammelte Briefe, I, (GB), Frankfurt/Main, Suhrkamp, 1973, S. 436.

3 Als Kunstmärchen kann ein Märchen bezeichnet werden, "dessen Stil deutlich die Eigenart seines Verfassers zeigt und dessen Inhalt den individuellen Menschen kennzeichnet; das Kunstmärchen ist wie Roman und Novelle Träger der weltanschaulichen und ästhetisch-formalen Besonderheiten seiner Zeit." Irmgard Schneeberger, Das Kunstmärchen in der ersten Hälfte des 20. Jhds., Diss. München, 1960.

Über Hesses Märchen, vgl. G.Wallis Field, Hermann Hesses moderne Märchen, in: H. Hesse heute, hrsg. von A. Hsia, Bouvier Verlag, Herbert Grundmann, Bonn, 1980, S. 204-232.

4 GW, X, S. 48.

5 Vgl. Ricarda Huch, Die Romantik. Blütezeit, Ausbreitung und Verfall, Tübingen, 1951, S. 81; Marianne Thalmann, Das Märchen und die Moderne. Zum Begriff der Surrealität im Märchen der Romantik, Stuttgart, Kohlhammer, 1961; Jens Tismar, Kunstmärchen, Stuttgart, Metzler, 1977.

6 Novalis, Das allgemeine Brouillon, Nr. 986, in: Die Werke Friedrich von Hardenberg, hrsg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, III, Stuttgart, 1965, S. 454.

7 Ibid.

8 GW, VI, S. 47.

9 Ibid., S. 78.

10 Ibid., S. 83.

11 Ibid., S. 82.

12 Ibid., S. 78.

13 Vgl. Zur Phänomenologie des Geistes im Märchen, in: Gesammelte Werke, IX, Bd/1, Walter-Verlag Olten und Freiburg, 1978, S. 223-269.

14 Über dieses Märchen, vgl. Reso Karalaschwili, Das Geheimnis der Irisblüte. Reise in Hermann Hesses Märchenwelt, in: Hermann Hesse. Charakter und Weltbild, Suhrkamp Taschenbuch, 2156, S. 347-355; Walter Schönau, Hesses grandiose Konjektural-Autobiographien. Zum Märchen Iris, in: Verschwiegenes Ich. Vom Un-Ausdrücklichen in autobiographischen Texten, hrsg. v. B. Götz, Pfaffenweiler, Centaurus-Verlag Ges., 1993, S. 187-205.

15 Jens Tismar, Kunstmärchen, op. cit., S. 70-71.

16 GW, VI, S. 113.

17 Ibid., S. 113.

18 Carl Gustav Jung, Symbole der Wandlung, 4. Aufl., Zürich, 1952, S. 361, 424, 605-607. Über C. G. Jung, vgl. Jolande Jacobi, Die Psychologie von C. G. Jung, Zürich und Stuttgart, 1967.

19 Klotz bezeichnet das Volksmärchen als naïve Ästhetik. Das Volksmärchen ist einfach, durchschaubar, zeitlos.

20 Piktors Verwandlungen, it 122, S. 34.

21 GW, VI, S. 128.

22 Ibid.

23 Vgl. GW, IX, S. 228.

24 GW, VI, S. 108.

25 Ibid., S. 71-72.

26 Ibid., S. 128.

27 Ibid., S. 86.

28 Ibid, S. 23.

29 Ibid., S. 46.

30 Ibid., S. 86.

31 Ibid., S. 87.

32 C.G. Jung, op. cit.

33 GW, VI, S. 129.

34 Jens Tismar, Kunstmärchen, op. cit., S. 71.

35 Volker Michels, in: Piktors Verwandlungen, Frankfurt, Suhrkamp, 1975, S. 91.

36 Jens Tismar, Das deutsche Kunstmärchen des XX. Jahrhunderts, J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung, Stuttgart, 1981, S. 47.

 


Published by HHP on August 11, 1997 using Netscape Navigator Gold 3.02
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