In Gaienhofen fanden die 23. Hermann-Hesse-Tage 2018 statt: Es gab manche interessante Erkenntnis Von Elke Minkus Unter dem Titel „Wirklichkeit und Imagination“ fanden am vergangenen Wochenende die 23. Hermann-Hesse-Tage in Gaienhofen statt. Die Veranstalter folgten dem bewährten Konzept, das sich aus einer Mischung von Vorträgen, Führungen und musikalischen Veranstaltungen zusammensetzt. Den Auftakt machte am Freitag der Herausgeber der Hesse-Werke im Suhrkamp Verlag, Dr. hc. Volker Michels. In seinen Ausführungen zu Hesses Roman Der Steppenwolf zeigte Michels die Verzahnung von Autobiografie und Zeitgeschehen in dem Werk auf. Auf seine persönliche Krise reagiere Hesse im Steppenwolf mit „einer Radikalität der Zeit- und Selbstkritik, die man sonst nur von jungen Men-schen kennt“, konstatierte Michels. Auch die im Roman unverhohlenen Warnungen vor dem nächsten Krieg sprachen besonders die kritische, junge Generation an. Deshalb habe bis heute dieser experimentelle Roman nichts von seiner Anzie-hungskraft für junge Menschen verloren, sagte Michels. Dazu passte im direkten Anschluss der Auftritt des bekannten Schauspielers Wanja Mues und des Jazz-Cellisten Stephan Braun. Der Schauspieler las intelligent aus-gesuchte Passagen aus dem Kultbuch der Hippie-Generation, die der Cellist mit ungewohnten Cello-Tönen kongenial begleitete und musikalisch noch betonte. Die geschulte Stimme des Schauspielers und die Meisterschaft des Cellisten begeister-ten das Publikum. „Wir wollten das Publikum entlassen, mit der Lust das Buch zu lesen“, sagte Mues gegenüber dem SÜDKURIER. Das dürfte den beiden gelungen sein. Eine weitere musikalisch-literarische Vorstellung bereicherte das diesjährige Programm. Nicht modern, sondern klassisch ausgerichtet las Graziella Rossi Gedichte und Prosa von Hesse. Nina Ulli begleitete die Rezitatorin auf der Violine. Die beiden konzentrierten sich dabei auf bekannte klassische Musikstücke und wussten durch ihre Professionalität ebenso zu überzeugen wie bereits Mues und Braun. Einer Etikettierung ging am Samstag die Diplom-Psychologin Marlis Ehlen in ihrem Vortrag nach. „Die zerrissene Persönlichkeit des Dichters Hermann Hesse“ lautete der Titel ihrer Untersuchung. Hesse sei im Laufe seines Lebens und posthum mit zahlreichen psychiatrischen Diagnosen versehen worden. Hatte man dem jugend-lichen Hesse „moral insanity“ bescheinigt, nannte Hesse selbst später diese Krisen-zeit eine „heftige Pubertätskrise“. Ehlen stimmte der Einschätzung Hesses zu. Weitere ihm jüngst zugeschriebene Diagnosen, wie zum Beispiel ADHS, konnte die Psychologin bei Hesse nicht erkennen. Vielmehr deutete sie die aus seiner Zerris-senheit entstandenen Verhaltensweisen und Zustände als harmlose Neurosen sowie depressive Phasen, erkannte insgesamt jedoch keine Pathologie in Hesses Persönlichkeit. Ehlen enthärtete so die zitierten stigmatisierenden Zuschreibungen. Einen weiteren erhellenden Vortrag hielt Andreas Solbach. Der Germanist unter-suchte Skizzen, Betrachtungen und Erzählungen Hesses aus den frühen Gaien-hofener Jahren. Kernpunkt seiner Ausführungen war die Bildhaftigkeit in Hesses Sprache, die sich dank der naturbezogenen Lebensweise in Gaienhofen in seinem Schreiben entwickelte. Hesse habe die Natur nicht einfach beschrieben, er habe sprachlichen Mittel eingesetzt, um eine bestimmte Atmosphäre zu schaffen. Zeit und Realität seien in seinen Betrachtungen zugunsten einer Stimmung aufgehoben worden, führte Solbach aus. Er habe so die reale Betrachtung ästhetisiert und eine Stimmung erzeugt, die beim Verfasser und Rezipient deckungsgleich sei. Mit solch sprachlicher Gestaltung habe Hesse der Natur eine zusätzliche Dimension verlie-hen. Diese Art des Schreibens sei keine eigene literarische Gattung, sie sei aber damals bereits bekannt gewesen und von wenigen anderen Autoren, wie zum Beispiel Robert Walser, ebenfalls eingesetzt worden, sagte der Germanist. Die Tagung in Gaienhofen fand ihren Abschluss mit einem Vortrag von Dr. Rudolf Probst vom Schweizerischen Literaturarchiv in Bern. Der Literaturwissenschaftler sprach zu der Entstehungsgeschichte des Steppenwolf-Romans und schloss so den Kreis zu dem Eröffnungsvortrag von Volker Michels. Hatte sich Michels vorwiegend auf den Inhalt und auf autobiografische Aspekte des Romans bezogen, erläuterte Probst die Textgenese des Steppenwolfs. Hesse habe 1925 die lyrische Vorarbeit mit seinen Krisis-Gedichten geleistet und später mit der Einbeziehung philosophi-scher Gedanken und mit Bezug zum Zeitgeschehen die lyrischen Stimmungen in Prosa objektiviert. Zu erkennen sei das auch an dem ersten handschriftlichen Entwurf und zwei folgenden erweiterten Typoskripten, die Aufschluss gäben auf die Metareflexion des Autors, erklärte Probst. ***