Zwischen Ehrfurcht und Revolte:
Hesse und die Doppelgesichtigkeit der Religion
Christoph Gellner
1921: Gerade 43 Jahre ist Hermann Hesse alt, zwei Jahre lebt er nun schon im Tessin, wo er nach dem Scheitern seiner ersten Ehe fortan allein seiner Schrift-stellerei leben will. Wie bei kaum einem anderen Schriftsteller der Vorkriegsgenera-tion war ja für Hesse mit dem gesellschaftlich-kulturellen Umbruch des Ersten Weltkrieges ein lebensgeschichtlich wie Montagnola im Januar/Februar auch künstlerisch radikaler Neubeginn verbunden. Zwischen Krieg, Inflation und Depression erlebte Deutschland gerade den Höhepunkt der Asien- und Fernost-begeisterung seit der Jahrhundertwende. Auch Hermann Hesse, beschäftigt mit der Arbeit an seiner indischen Legende Siddhartha ist wiederum tief in die Welt der Religion und Philosophie Indiens eingetaucht. Durch sein der Indienmission ver-bundenes Calwer Elternhaus war ihm die Vertrautheit mit indischer Religiosität sozusagen in die pietistische Wiege gelegt worden. [1]
Der Buddhismus - eine Art Reformation in Indien "Meine Beschäftigung mit Indien, die nun schon bald zwanzig Jahre alt ist", erfährt man erstaunt aus Hesses Tagebuch des Jahres 1921, »scheint mir nun an einem neuen Entwicklungspunkt angelangt zu sein. Bisher galt mein Lesen, Suchen und Mitfühlen fast ausschließlich dem philosophischen, dem rein geistigen, dem vedan-tischen und buddhistischen Indertum, die Upanishaden und die Reden Buddhas standen im Mittelpunkt dieser Welt. Erst jetzt nähere ich mich mehr dem eigentlich religiösen Indien der Götter und Tempel", der volkstümlich-bilderreichen Götter- und Dämonenwelt Vishnus und Indras, Brahmas und Krishnas. "Und jetzt erscheint der ganze Buddhismus mir mehr und mehr als eine Art indischer Reformation, genau entsprechend der christlichen - für Hesse konnte das nur heißen: mit genau denselben fatalen Konsequenzen wie im Protestantismus! "Es beginnt beidemale mit einer Vergeistigung und Verinnerlichung, es wird das Gewissen des Einzelnen zur wichtigsten Instanz, es wird mit äußerlichem Kult, mit Käuflichkeit der Gnade, mit Zauber und Opferkult aufgeräumt, die Priesterkaste verliert an Einfluß, das Denken und Gewissen des Einzelnen wehrt sich gegen alte Autoritäten. Wie nach wenigen Jahrhunderten die protestantische Kirche verkommt, als Kult verarmt und verknöchert, so sinkt allmählich der Buddhismus wieder zurück vor dem Auffluten neuer Kulte und Seelenwelten aus dem alten Götterreich." Beidemale, in Indien wie in Europa, sei denn auch die götterlose, scheinbar so viel reinere, geistigere, protestantische Religion nicht als Religion zeugungsfähig geblieben. Warum? "Der reformierte, puritanische Glaube fordert eine Hingabe des Selbst, deren nur wenige fähig sind ... Das Opfer meiner Selbst, meiner Triebe und Wünsche kann ich nur selten und nur unvollkommen bringen; das Opfer der Gaben, der Anbetung, der Bekränzungen, der Tänze und Kniebeugn aber kann ich jederzeit leisten ... Und so erzieht denn auch jede reformatorisch gefärbte Religion zu einem bösen Kultus der Minderwertigkeitsgefühle."[2]
Daß im Buddhismus wie im Protestantismus eine gefährliche Kultur der Minder-wertigkeitsgefühle getrieben wurde: Hesse wußte, wovon er sprach. Waren ihm doch die neurotisierenden Folgen solch reformiert-puritanischer Frömmigkeit, wie er sie jetzt im indischen, Buddhismus entdeckte, durch seine eigene christlich-pietistische Herkunft und Erziehung nur allzu vertraut: "Wir lebten unter einem strengen Gesetz, das vom jugendlichen Menschen, seinen natürlichen Neigungen, Anlagen, Bedürfnissen und Entwicklungen sehr mißtrauisch dachte und unsere angeborenen Gaben, Talente und Besonderheiten keineswegs zu fördern oder gar ihnen zu schmeicheln bereit war. Es war das pietistisch-christliche Prinzip, daß des Menschen Wille von Natur und Grund aus böse sei und daß dieser Wille also erst gebrochen werden müsse, ehe der Mensch in Gottes Liebe und in der christlichen Gemeinschaft das Iteil erlangen könne." (X 212)
"Das Dichten und Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend auf" (Gen 8,21)- in der Welt des Christentums hat dieser Bibelspruch jahrhundertelang die Erziehung bestimmt (und zwar im katholischen, auch dafür gibt es zahlreiche literarische Zeugnisse, kaum weniger, wenn auch anders als im protestantischen Bereich). Für das Brechen des Eigenwillens war vor allem August Hermann Francke (1663-1727), einer der Väter des Pietismus, bekannt. Mit seiner vermeintlich christlichen Erbsündenpädagogik, die im menschlichen Eigenwillen wenig anderes als einen Ausdruck der Erbsünde sah, übte er nicht nur auf das pietistische Erziehungsdenken nachhaltigen Einfluß aus. Werde den Kindern ihr "Mutwillen" gelassen und ihnen das Böse nicht ausgetrieben, so erstarken in ihnen, wie Francke sagte, "die Kräfte des alten Menschen" immer mehr, so daß am Ende selbst mit Gewalt nichts mehr zu erreichen sei. Umgekehrt könne der Eigenwille in jungen Jahren am leichtesten gebrochen werden, weil er dann "noch nicht gestärket ist". [3]
Von der Doppelgesichtigkeit der Religionen Wohl nur wenige dürften religiöse Erziehung heute noch mit Erfahrungen wie denen von Hermann Hesse verbinden: Um ein guter Christ zu sein, mußte man ein schlechtes Gewissen haben. Man mußte sich schuldig fühlen, um sich seiner Erlösung zu freuen. Ja, man konnte die ersehnte Liebe Gottes nur finden, wenn man sich selber haßte, groß nur werden, wenn man sich klein machte, Güte nur finden, wenn man sich selbst verurteilte. Religion und Moral haben darüber einen schlechten Ruf bekommen, ja, sie sind dadurch gründlich in Mißkredit geraten. Schienen Religion und Moral doch nur der Unterdrückung von Lust und Eigen-Sinn zu dienen, Menschen unfähig zum Glück zu machen, sie am aufrechten Gang zu hindern, ihr Gewissen, ja, ihr ganzes Fühlen und Erleben unter der Last ständiger Schuldgefühle zu verkrümmen. Man versteht Hesses bitteres Resümee nur allzu gut: "Diese Lehre hat mein Leben verdorben, und ich kehre nicht zu ihr zurück!" (GB II, 39) "Gottesvergiftung" könnte man diese angst- und krankmachende Form von Gottesglauben nennen, in Anlehnung an Tilman Mosers gleichnamiges Buch, dem er das vielsagende Motto vorangestellt hat: "Freut euch, wenn euer Gott freundlicher war."[4]
Freilich: Der Calwer Missionarssohn Hermann Hesse, dem durch den rigiden pietistischen Traditionalismus seines Elternhauses "der christliche Weg zu Gott" regelrecht "verbaut" worden war (GB II, 50), ist dabei keineswegs stehenge-blieben. Religions-, Christentums-und Kirchenkritik bedeuteten für ihn nicht Ablehnung von Religion und Christentum überhaupt! Hatte Hesse auch schon früh gegen die streng moralisierende Erziehung seines frommen Elternhauses revoltiert und sich vom devoten Gottesglauben seiner Verwandten losgesagt, so blieb er dennoch zeitlebens auf der Suche nach religiösen Alternativen, auf der Suche nach einer ihm gemäßen Form von Religion. Hellsichtig sah Hesse dabei die Doppelgesichtigkeit des Phänomens Religion durchaus auch in anderen Religionen. Ja, seine Asienfaszination machte ihn keinesfalls blind für die Doppelgesichtigkeit aller Religion. Während ihm, Hesse, "die christlicheWahrheit in derJugend in unzulänglichen Formen aufgedrängt worden" sei, erfährt man aus einem Brief jener Jahre, sei es dem Inder Sundar Singh genau umgekehrt ergangen: "Ihm wurde indische Lehre aufgedrängt, er fand dort in Indien die herrliche alte Religion entstellt und entartet, so wie ich hier die christliche, und er wählte das Christen-tum, d.h. er wählte nicht, sondern er wurde einfach überzeugt, erfüllt und über-wältigt vom Liebesgedanken Jesu, so wie ich vom Einheitsgedanken der Inder. Für andre Menschen führen andre Wege zu Gott, ins Centrum der Welt. Das Erlebnis selbst aber ist stets das gleiche." (GB II, 51) Hesses Fazit? "Ich glaube, eine Religion ist ungefähr so gut wie die andre. Es gibt keine, in der man nicht ein Weiser werden könnte, und keine, die man nicht auch als dümmsten Götzendienst betreiben könnte." (AB 203f)
Keine Frage, daß Religionen im Negativen, im unheilvoll-krankmachenden Sinne unendlich viel Leid angerichtet haben und z.T. noch immer anrichten, indem sie Menschen an der Entfaltung ihrer menschlichen Identität und Individualität, das heißt an ihrer Menschwerdung hindern. Doch umgekehrt können Religionen auch im Positiven, heilvoll-lebensförderlichen Sinne unendlich viel leisten und haben dies auch getan, indem sie zum Glücken und Gelingen menschlicher Existenz, zur Selbstfindung und so zur Lebensbewältigung im persönlichen wie im gesellschaft-lichen Wesentliches beitragen. Heilvolles und Unheilvolles, wahre und pervertierte Religion sind dabei oft zum Verwechseln ineinander verwoben. Der schwäbische Pietistensohn Hermann Hesse jedenfalls hat diese Doppelgesichtkeit der Religionen schon früh wahrgenommen und sich an ihr ein Leben lang "abgearbeitet".
Das verbannte Wissen Dabei ist den meisten Leserinnen und Lesern in der Regel viel zu wenig bewußt, wie lange es brauchte, bis sich Hesse von dieser traumatischen Prägung durch Religion befreien und deren heillos-krankmachende Mechanismen literarisch ungeschminkt zur Sprache bringen konnte. Gerade Hesses neuromantisch verträumtes Frühwerk verbreitet um all die Versagungen seiner Kindheit und Jugend einen geradezu verklärenden Glanz, den freilich unübersehbar ein dunkler Rand von Trauer umgibt. "Meine ganze Jugend", heißt es etwa im Inseltraum, einem jener frühen, kaum verhüllt autotherapeutischen Texte aus Hesses erstem Prosaband Eine Stunde hinter Mitternacht (1899), "meine ganzeJugend sah mich traurig mit Augen eines misshandelten Kindes an" (I, 176). Ja, das Wissen um die ängstlich-beklemmenden Nachtseiten seiner Knabenzeit ist selbst in Hesses frühester Prosa-Arbeit Meine Kindheit (1895/96) keineswegs völlig verbannt. Doch außer harten, anklagenden Worten über seine Schülerzeit verhinderte Hesses schuldbewußte Selbstzensur vorerst noch die Aufdeckung der wahren Konflikt-geschichte. Kaum zufällig bricht diese frühe Erzählung gerade an jenem Wende-punkt ab, der zu den wohl folgenschwersten Zäsuren in Hesses Leben zählt: unmittelbar vor seinem Eintritt in das berühmte evangelisch-theologische Seminar im ehemaligen Zisterzienserkloster von Maulbronn. Was die Auseinandersetzung mit seiner heillosen christlich-religiösen Erziehung anlangt, wirkt selbst der zehn Jahre später erschienene Schülerroman Unterm Rad (1906) recht harmlos. Gewiß, Hesse setzt darin zur großen literarischen Abrechnung mit der autoritären Lehrer- und Pfarrerschaft an, die alles daransetze, die individuelle Entfaltung des einzel-nen zu unterdrücken, um fleißige, gehorsame und fromme Untertanen heranzu-ziehen: wer sich dieser Dressur nicht unterordnete, kam "unters Rad"! Und doch kommen Kirche und Religion in dieser Erzählung lediglich als Teil des repressiven Erziehungssystems der Gesellschaft in den Blick. Damit blieb Hesse ganz im Rahmen zeitgenössischer Kritik am Schul- und Erziehungswesen des wilhelmini-schen Kaiserreichs.
Hesses frühe Glaubenskrise nach seiner Flucht aus Maulbronn jedoch, als der kaum 15jährige in ein ganzes Räderwerk von geistlichen und psychiatrischen Zwängen geriet, bleibt in Unterm Rad erzählerisch weiterhin augespart! Nein, es brauchte erst die persönlich-private und politische Krise des Ersten Weltkriegs, es brauchte den Zusammenbruch der bürgerlichen Autoritätskultur, es brauchte vor allem die Begegnung mit der Psychoanalyse, ehe Hesse die fatalen Mechanismen seiner heillosen christlich-religiösen Erziehung erzählerisch aufzuarbeiten begann.
Mit dem Demian-Roman ist es endlich so weit: erstmals wagt Hesse darin einen rückhaltlosen "Blick ins Chaos" all der dunklen, unheimlichen Regungen, Wider-sprüche und Abgründe in der Tiefe der menschlichen Seele, die seine rigide Erziehung ängstlich weggelogen und als böse, verdorben und verboten verteufelt hatte. Ja, im Zeichen des zwiegesichtigen Abraxas-Gottes sollte nunmehr die neurotisierende Aufspaltung der Wirklichkeit in "zwei Welten" - die helle, reine, "göttlich-offizielle" mit ihren festen Normen auf der einen, die dunkle, unheimliche, "totgeschwiegene teuflische" Welt der Abenteuer, der Gefahren und ungebändig-ten Gefühle auf der anderen Seite - zur Versöhnung gebracht werden. Was Hesses christliche Erziehung auseinandergerissen hatte in Gut und Böse, sündhaft und erlaubt, Schuld und Unschuld, Gott und Teufel, was die christlich-pietistische Sündenmoral seines Elternhauses an Rissen in seiner Seele angerichtet, an Ver-teufelungen verursacht, an Spaltungen bewirkt hatte: Jetzt endlich sollte es zur Versöhnung kommen im Zeichen jenes ambivalenten Abraxas-Gottes, der Gut und Böse, Licht und Dunkel, Heiligstes und Gräßlichstes, ja, Gott und Teufel in einem war. Die Radikalisierung der Gottesproblematik im Demian-Roman ist dann auch der literarische Ausdruck von Hesses eigener psychothera-peutischer Erfahrung, die ihn allererst die Annahme des bisher weggelogenen und als amoralisch verfemten Bösen im Menschen selber lehrte.[5]
Kaum weniger umstürzend als dieser Abraxas-Gott muten auch Demians subver-siven Bibelexegesen im Geiste Friedrich Nietzsches und dessen religions- und christentumskritischer Moralkritik an. Kain sollte nicht länger der frevelhafte, feige Brudermörder sein. Kein Verbrecher, sondern ein Mann von Mut und Charakter, ein mutiger Einzelgänger, der es gewagt hatte, das zu sein, was er in Wirklichkeit war ("Leute von Charakter kommen in der biblischen Geschichte gern zu kurz!"). Kain also der erste Rebell der Menschheit, ein Mensch in der Revolte wider die lebens-vergiftende Neurotisierung durch Religion. Kain, der erste Rebell wider den autori-tären Vater-Gott, der kühn mit der repressiven Gebots- und Verbotsmoral seines Vaterhauses, der verlogenen Scheinmoral bürgerlich-christlicher Wohlanständigkeit und Tugendhaftigkeit gebrochen hatte und so das Wagnis der gefahrvollen, ein-samen Individuation eingegangen war - das waren in der Tat keine "sentimentalen Traktätchengeschichten" mehr, für die Max Demian nur Spott und Hohn übrig hatte, keine erbaulichen "Pfaffengeschichten", "süß und unredlich" (V. 61)!
Nirgendwo hat Hesse indes literarisch minuziöser ausgeleuchtet, was eine heillos-angstbesetzte religiöse Erziehung und die mit ihr einhergehende Gottes- und Beziehungsvergiftung in der Seele eines heranwachsenden Kindes anrichtet, als in seiner unmittelbar nach dem Demian und noch ganz unter dem Eindruck seiner eigenen 1 1/2-jährigen Psychotherapie entstandenen Novelle Kinderseeele (1918). Mit großem Einfühlungsvermögen schildert Hesse darin die Gefühle eines elfjährigen Knaben, der aus dem Zimmer seines geliebten Vaters einige Feigen gestohlen hat, nur um etwas, das dem Vater gehörte, ganz nah bei sich zu haben. Skrupulöse Schuldgefühle, Angst und Minderwertigkeit quälen ihn in seiner Einsamkeit, das Kind fühlt sich verdorben, böse und ausgestoßen.[6] In seinem Herzen streiten Ehrfurcht und Auflehnung gegenüber dem Vater. Von Hass, ja, sogar von unter-drückten Mordphantasien ist die Rede. In einem seiner Tagträume revoltiert das Kind denn auch gegen den grausamen Gott solch strengfrommer Erziehung, die jede Regung von Eigensinn, Sinnlichkeit und Kreativität bestrafte: "Wenn ich hingerichtet und tot war und im Himmel vor den ewigen Richter kam", läßt Hesse den Knaben phantasieren, "dann wollte ich mich keineswegs beugen und unter-werfen. O nein, und wenn alle Engelscharen ihn umstanden und alle Heiligkeit und Würde aus ihm strahlte! Mochte er mich verdammen, mochte er mich in Pech sieden lassen! Ich wollte mich nicht entschuldigen, mich nicht demütigen, ihn nicht um Verzeihung bitten, nichts bereuen ... ich hasse dich, ich spucke dir vor die Füße, Gott. Du hast mich gequält und geschunden, du hast Gesetze gegeben, die niemand halten kann, du hast die Erwachsenen angestiftet, uns Jungen das Leben zu versauen." (V, 183)
Frommsein ist nichts anderes als Vertrauen Doch befreit vom Alpdruck all dieser anerzogenen religiösen Schuldkomplexe und verinnerlichten bürgerlichen Moralkonventionen gelang es Hesse allmählich auch, den christlichen Gottesglauben, der ihm in seiner Jugend so gründlich verleidet worden war, neu schätzenzulernen: "Fromm sein ist nichts anderes als Vertrauen", konnte Hesse jetzt schreiben. "Vertrauen hat der einfache, gesunde, harmlose Mensch, das Kind, der Wilde. Unsereiner, der nicht einfach noch harmlos war, mußte das Vertrauen auf Umwegen finden. Vertrauen zu dir selbst ist der Beginn. Nicht mit Abrechnung, Schuld und bösem Gewissen, nicht mit Kasteiung und Opfern wird der Glaube gewonnen. Alle diese Bemühungen wenden sich an Götter, welche außer uns wohnen. Der Gott, an den wir glauben müssen, ist in uns innen. Wer zu sich selbst nein sagt, kann zu Gott nicht ja sagen." Nachzulesen in Hesses 1918 entstandener Betrachtung Kapelle, für mich ein religiös-theologischer Schlüsseltext. Hesse hat ihn zusammen mit anderen Aufzeichnungen, Gedichten und eigenen Aquarellen 1920 unter dem Titel Wanderung veröffentlicht.
"Wer aus einem frommen Protestantenhause stammt", setzt Hesse hinzu, habe freilich einen weiten Weg zu suchen bis zu dieser Erkenntnis: "Er kennt die Höllen des Gewissens, er kennt den Todesstachel der Zerfallenheit mit sich selber, er hat Spaltung, Qual, Verzweiflung jeder Art erfahren. Am späten Ende des Weges sieht er mit Erstaunen, wie einfach, kindlich und natürlich die Seligkeit ist, die er auf so dornigen Wegen gesucht hat. Der Weg zur Frömmigkeit mag für jeden ein andrer sein. Für mich lief er über viel Irrtümer und Leiden, über viel Selbstquälerei, durch stattliche Dummheiten, Urwälder von Dummheiten. Ich bin Freigeist gewesen und wußte, daß Frömmigkeit eine Seelenkrankheit sei. Ich bin Asket gewesen und habe mir Nägel ins Fleisch getrieben. Ich wußte nicht, daß Frommsein Gesundheit und Heiterkeit bedeutet." (VI, 157ff)
Religion also nicht als Zwangsjacke, Fremdbestimmung und seelische Verkrüppe-lung, Religion vielmehr verstanden als angstfreies Vertrauen, als Quelle der seelischen Gesundheit, von Ichstärke und innerem Gleichgewicht, persönlicher Reifung, innerem Wachstum und der Liebesfähigkeit: Was Hesse daher an den großen spirituellen Traditionen Asiens, zunehmend aber auch am Christentum faszinierte, das war in erster Linie die therapeutisch-experientielle Dimension des Religiösen: Religion verstanden als eine Heilquelle für die Selbst-, Ganz- und Menschwerdung des Menschen. Die Entdeckung, daß Religion nicht Angst machen muss, sondern gerade die Kraft zur Überwindung von Angst vermitteln kann und will, indem sie einen letzten und tiefsten Vertrauensgrund, ja, ein grundloses, unbedingtes Bejaht- und Angenommensein jenseits aller moralischen Leistungen und Anstrengungen verbürgt. Hesse nannte dieses "Vordringen zu Gnade und Erlöstsein ... oder kurz gesagt: zum Glauben" die "dritte Stufe der Mensch-werdung«, die er denn auch bei Indern, Chinesen und Christen "überall in analogen Symbolen ausgedrückt fand" (X 76). Der Inder sagt Atman, der Chinese Tao, der Christ Gnade, und jeder Christ, der "dem Bereich der bloß ,christlichen' Erlebnisse entwachsen sei, finde "bei den Gläubigen anderer Religionen, nur in anderer Bilder-sprache, alle jene Grunderlebnisse der Seele ... unfehlbar wieder" (X, 79).
Erzählerisch hat Hesse dies wohl nirgendwo eindringlicher beschrieben als in seiner indischen Legende Siddhartha. Hesse sah darin zu Recht den Versuch, das indisch-meditative Lebensideal und die alte asiatische Lehre von der göttlichen Einheit aller Dinge, das Kernstück aller östlichen Lebens- und Weisheitslehren, "für unsere Zeit und in unserer Sprache" neu zu formulieren. Das Bemühen, in der Meditation und Kontemplation zur ganzheitlichen Verbundenheit alles Lebens, zum allerersten-allerletzten tragenden Grund aller Wirklichkeit vorzudringen, in einen Bereich, der alles Individuelle, alles Ichhafte, alle Vorstellungen des Unter-schiedensein hinter sich läßt - all das macht ja bis heute die besondere Faszina-tion östlicher Selbsterfahrungs- und Meditationsmethoden wie Zen und Yoga bei uns hier im Westen aus! Nun hat Hesse diese asiatische Einheitsvorstellung in Siddhartha noch mit einem weiteren Gedanken verknüpft, dem der Liebe zu allen Dingen und Wesen, eine Gedankenverbindung, die in den altindischen Texten höchstens in Andeutungen vorhanden ist. Siddharthas Freund Govinda empfindet denn auch sogleich den Widerspruch zur weltüberwindenden Buddha-Lehre. In der Tat endet Hesses Siddhartha weder im Zeichen buddhistischer Weltentsagung noch hinduistischer Weltdurchschauung (Welt=Maja=Schein), auch nicht der Hingabe an die taoistische Polarität des Lebens, sondern eher christlich.
Asiatische Hermeneutik des Christentums Doch worin gründet Siddharthas überraschendes Bekenntnis zur Liebe? Es gründet in der alles verwandelnden Tiefenerfahrung einer letzten Identität von individuel-lem und universellem Selbst, wie sie in jenem "großen Wort" der Upanishaden aus-gesprochen ist: tat twam asi (das bist du). Gerade darum vermag ja Siddhartha allen Dingen und Wesen Liebe entgegenzubringen, weil er die zehntausend Dinge der Erscheinungswelt als seinesgleichen empfindet: "Das ist es, was sie mir so lieb und verehrungswert macht: sie sind meinesgleichen. Darum kann ich sie lieben." (V, 466f) Dieses Einverständnis mit dem göttlichen Ganzen hat für Hesse nichts mit passivem Quietismus zu tun. Es ist vielmehr die Bedingung der Möglichkeit, von Innen heraus, frei von aller Außenlenkung, aller Fremdbestimmung, zur Selbst-, Welt- und Nächstenliebe befreit zu werden. Denn befreit von allem verkrampften Machenmüssen, befreit von allem moralischen Perfektionsstreben und der letztlich verzweifelten Anstrengung des Sich-selber-Durchsetzen-müssens wird dem Menschen allererst jene Liebe und Gelassenheit zuteil, aus der das rechte Handeln gewissermaßen wie von selbst, spontan, ohne von außen auferlegte Gebote und Verbote, einfach daraus folgt, daß jeder Mitmensch und alle Dinge meinesgleichen sind.
Liebe also, die aus der intuitiven Erkenntnis der ungeschiedenen Einheit alles Seienden entspringt: Muß man lange erklären, warum für Hesse dadurch das christliche Liebesgebot - "Du sollst deinen Nächsten lieben, er ist wie du!" (Lev 19, 18; Mt 22, 39) - plötzlich eine ganz neue Plausibilität gewann, sah er darin doch nicht länger nur eine von außen auferlegte Sollensforderung? "Wenn man die Sprüche des Neuen Testamentes nicht als Gebote nimmt", als von außen aufer-legte moralische Forderung und Befehl, "vielmehr als Äußerungen eines ungewöhn-lichen Wissens um die Geheimnisse unserer Seele", formuliert Hesse im Kurgast- Tagebuch (1923), "dann ist das weiseste Wort, das je gesprochen wurde ... jenes Wort ,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst'" (VII, 105). Für Hesse lag darin der "Inbegriff aller Lebenskunst und Glückslehre" beschlossen. Warum? "Asiatisch", das heißt im Sinne des indisch-mystischen Einheitsgedankens laute dieses Bibelwort: "Liebe den Nächsten, denn er ist du selbst, eine christliche Übersetzung des ,tat twam asi"' (VII, 106).
Davon war Hesse zutiefst überzeugt: Der innerste Kern jeder Seele, den der Inder Atman nennt, das Selbst des Menschen, "ist bei allen Menschen gleich". Und wer dies Ich, "die Norm alles Lebens" finde, "sei es auf dem Wege Buddhas oder der Veden oder das Lao Tse oder Christi, der ist in seinem Innersten verbunden mit dem All, mit Gott, und handelt aus einem Einverständnis mit ihm heraus" (GB I, 445f). Es ist denn auch mehr ein mystisches als ein kirchliches Christentum, zu dem Hesse sich nun bekennt. Eine Religion außerhalb, zwischen und über den Konfessionen, die zutiefst von der Erkenntnis durchdrungen ist, daß die großen religiösen Stromsysteme der Menschheit letztlich in ein und derselben mystisch-meditativen Grunderfahrung wurzeln. "Indisch aufgefaßt", setzt der 70jährige Hesse einem seiner Leser auseinander, "ist mein Nächster nicht nur ,ein Mensch wie ich', sondern er ist Ich, er ist mit mir Eins, denn die Trennung zwischen ihm und mir, zwischen Ich und Du, ist Täuschung, Maya. Mit dieser Deutung ist auch der ethische Sinn der Nächstenliebe völlig ausgeschöpft. Denn wer erst einge-sehen hat, daß die Welt eine Einheit ist, dem ist ohne weiteres klar, daß es sinnlos ist, wenn die einzelnen Teile und Glieder dieses Ganzen einander wehtun." (AB 254) Hesses Einsatz gegen Hass, Feindschaft und Krieg zwischen den Völkern wurzelt denn auch in der Erfahrung, "dass Gott, der Eine, in jedem von uns lebt, dass jeder Fleck Erde uns Heimat, jeder Mensch uns verwandt und Bruder ist, dass das Wissen um diese göttliche Einheit alle Trennung in Rassen, Völker, in Reich und Arm, in Bekenntnisse und Parteien als Spuk und Täuschung entlarvt" (X, 542).
Ein wahrhaft protestantischer Zug Wenn es dann eine weisheitliche Grundspur gibt im Denken und Schreiben Her-mann Hesse, dann ist es die Einsicht, daß nur gelebte, nicht aber gelehrte Weis-heit den Suchenden seinem Ziel näherbringt. "Du hast die Erleuchtung gefunden aus deinem eigenen Suchen, auf deinem eigenen Wege ... nicht ist sie dir gewor-den durch Lehre ... keinem wird Erlösung zuteil durch Lehre", so hält Hesses Sidd-hartha Gautama Buddha entgegen. "Dies ist es, weswegen ich meine Wander-schaft fortsetze - nicht um eine andere, eine bessere Lehre zu suchen, denn ich weiß, es gibt keine, sondern um alle Lehren und alle Lehrer zu verlassen und allein mein Ziel zu erreichen." (V, 381) "Dass mein Siddhartha nicht die Erkenntnis, son-dern die Liebe obenanstellt, daß er das Dogma ablehnt und das Erlebnis der Einheit zum Mittelpunkt macht", räumt Hesse später ein, "mag man als ein Zurückneigen zum Christentum, ja als einen wahrhaft protestantischen Zug empfinden" (X, 72). Ja, was diese kompromißlose Ablehnung jedweder Bevormundung von außen anlangt, ist in der Tat auch Gautama Buddha "ein Protestant gewesen" (VI, 404).
In der Tat war Gautama Buddha einer der großen Lehrer der Menschheit. Und doch ist seine Lehre zugleich eine Nicht-Lehre. Leitet sie doch zu einem fort-währenden Sichlösen an: vom Lebensdurst und allem egoistischen Haften ans Dasein, von Gier, Haß und Verblendung, von Besitz und Wissen, ja, allen Bildern und Vorstellungen des Denkens. Um frei zu werden für ein Leben in Güte, Selbst-losigkeit, Gleichmut und allumfassendem Mitgefühl, für ein Leben in meditativer Weltabkehr und Inneneinkehr. Nicht von ungefähr lautet der Name für Buddhismus in Sanskrit, der heiligen Sprache Asiens, yana. Gewöhnlich wird das mit "Fahrzeug" übersetzt, genauer heißt es "Fährboot" oder "Fähre". So verstand es auch der Buddha, als er seine Schüler fragte: "Wäre der Mensch gescheit, wenn er das Floß, weil's ihn gerettet hat, behielte? Es auf den Rücken nähme und landeinwärts trüge?" - "Nein", sagten die Schüler, "man soll es dem Strom überlassen, der hinter einem liegt." - "So ist es auch mit der Lehre", folgerte der Buddha, "sie ist zum Entrinnen tauglich, nicht zum Festhalten." So weist denn auch der Buddha einen Erfahrungsweg, den jede und jeder selbst gehen muß: Es nutzt nichts, sich auf die Weisheit des Buddha zu berufen, sofern man sie nur als Wort und Formel kennt. Als Lehrer vermag der Buddha letztlich nur für den "verborgenen Lehrer" im eigenen Innern zu sensibilisieren.
Daß Weisheit nicht lehrbar sei, dieser für Hesse so zentrale Grundgedanke begeg-net schließlich an prominenter Stelle auch im Glasperlenspiel (1943): "Es gibt die Wahrheit", gibt der Musikmeister dem jungen Knecht schon bei ihrer ersten Begeg-nung zu verstehen, "aber die ,Lehre', die du begehrst, die absolute, vollkommen und allein weise machende, die gibt es nicht. Du sollst dich auch gar nicht nach einer vollkommenen Lehre sehnen, Freund, sondern nach Vervollkommnung deiner selbst. Die Gottheit ist in dir, nicht in den Begriffen und Büchern. Die Wahrheit wird gelebt, nicht doziert" (IX, 85). Hesses Glasperlenspiel handelt darum wiederum von der Revolte eines einzelnen, der seine eigene Wahrheit, fern aller Kollektive, auch der Konfessionen und Religionen, findet: "Für die Mehrheit der Menschen ist es sehr gut, einer Kirche und einem Glauben anzugehören. Wer sich davon löst", schreibt der 83jährige Hesse, "der geht zunächst einer Einsamkeit entgegen, aus der sich mancher bald wieder in die frühere Gemeinschaft zurück-sehnt. Er wird erst am Ende seines Weges entdecken, daß er in eine neue große, aber unsicht-bare Gemeinschaft eingetreten ist, die alle Völker und Religionen umfasst. Er wird ärmer um alles Dogmatische und alles Nationale, und wird reicher durch die Brüderschaft mit Geistern aller Zeiten und aller Nationen und Sprachen" (AB 513).
Die beiden Pole Und dennoch tauchen in Hesses Glasperlenspiel, diesem Buch der weitaus-greifenden westöstlichen Synthese, wie schon in der Morgenlandfahrt, ganz neue ethisch-ästhetische Schlüsselworte auf - Ehrfurcht, Frömmigkeit, Dienenwollen -, die unverkennbar im pietistischen Christentum wurzeln.[7] Stellt Hesse darin doch dem Feuilletonismus wie dem übertriebenen westlichen Individualismus einen neuen Wertekanon von Ordnung und Bindung, Sammlung und Gelassenheit ent-gegen, ein weisheitliches Ethos dienst- und opferbereiter Weltverantwortung aus dem Grund meditativ-kontemplativer Erfahrung, das sich zutiefst von Überzeugun-gen und Haltungen des Christlichen, zumal der im schwäbischen Pietismus so hochgehaltenen praxis pietatis speist: "Daß Menschen ihr Leben als Lehen von Gott ansehen und es nicht in egoistischem Trieb, sondern als Dienst und Opfer vor Gott zu leben suchen", schreibt Hesse im Blick auf seine Eltern und Großeltern, "dies größte Erlebnis und Erbe meiner Kindheit hat mein Leben stark beeinflußt" (X, 70f). "Ihr nicht gepredigtes, sondern gelebtes Christentum ist unter den Mächten, die mich erzogen und geformt haben, die stärkste gewesen" (AB 336).
Das also ist charakteristisch für Hesses eigenwillige Religiosität, Kritik und Glaube, Ehrfurcht und Revolte, Eigensinn und Hingabe, Individuation und Einordnung ins überpersönliche Ganze. Ja, zwischen diesen beiden Polen pendelt Hesses ganzes Leben, Denken und Schreiben. Diese beiden Pole markieren denn auch Hesses lebenslange Auseinandersetzung mit dem Phänomen Religion, das er schon früh in seiner Doppelgesichtigkeit erfuhr. Das religiöse Erbe seines christlich-pietistischen Elternhauses, an dem er sich von klein auf wundgerieben und gegen das er schon früh revoltiert hatte - Hesse hat es sich in der Tat nur "über den Umweg eines radikalen Traditionsbruchs" (W. Müller-Seidel) hinweg aneignen können, um es schließlich durch seine lebenslange Beschäftigung mit den Religionen Indiens und Chinas zu einer eigentümlichen religionen- und kulturenübergreifenden westöst-lichen Synthese zu transformieren. [8] Gerade so führt uns Hesse vor Augen, was es heißt, nach dem Abschied vom Kindheitsgott, der für ihn weithin identisch war mit skrupulöser Selbstverleugnung, Ichauslöschung, mit lebenshemmenden Schuld- und Mindernvertigkeitsgefühlen, in einer neuen, gewandelten Weise religiös zu sein, die mit den Kategorien traditioneller Christentums- und Kirchenzugehörigkeit kaum zu greifen ist. Vielleicht erkennen wir Nachgeborenen gerade darin heute Hesses Zeitgenossenschaft.
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Published with the kind permission of the author by The Hermann Hesse Page at the University of California, Santa Barbara on December 2, 1997, using Netscape Return to Main Menu